*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.
Der 60. Jahrestag der Göttinger Erklärung (GE) wurde am 3. Mai 2017 in der ehrwürdigen Aula der Universität Göttingen in einer gut besuchten Festveranstaltung gewürdigt. In ihrem Grußwort hob die Präsidentin der Universität Ulrike Beisiegel hervor, dass sich die Universitäten sowie verschiedene Disziplinen stärker am Verantwortungsdiskurs bezüglich aktueller globaler Fragen beteiligen müssten. Hartmut Graßl, Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V., hinterfragte, ob die Wissenschaft es angesichts der zukünftigen komplexen Herausforderungen überhaupt noch schaffe, diese Verantwortung adäquat wahrzunehmen. Arnulf Quadt, Vorstandsmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), verwies darauf, dass die Wissenschaft ein hohes gesellschaftliches Gut sei, ihre Erkenntnisse aber besser vermitteln und mehr Verantwortung übernehmen müsse. In einer anschließenden Diskussion wurden sechs WissenschaftlerInnen gefragt, wie die Wissenschaft heute im Zeitalter alternativer Fakten verantwortlich handeln könne. Genannt wurden viele neue Felder wie Big Data, Autorenrechte, Cyberwar oder die Stammzellenforschung. Diverse Hindernisse wurden von der NDR-Radiomoderatorin Ulrike Bosse in kleine verdauliche Häppchen aufgeteilt und sehr allgemein angesprochen, so etwa die zunehmende „Verzweckung“ von Wissenschaft, der Exzellenz- und Drittmitteldruck, die Notwendigkeit einer „entschleunigten und ehrlichen Wissenschaft“, und die nach wie vor schwache Behandlung gesellschaftlicher Herausforderungen. Dabei wurden die Randbedingungen, Themen und Hintergründe der GE sowie deren Konsequenzen außer Acht gelassen. Deshalb hier ein weiterer Versuch der Beantwortung der Frage: „Was sagt uns die GE, 60 Jahre danach?“
Was bedeutete die Göttinger Erklärung 1957? Die Friedensfrage in Europa
Zunächst die Fakten und der Kontext vor 60 Jahren: Anlass dieser recht kurzen und maßgeblich von Carl Friedrich von Weizsäcker erarbeiteten Erklärung war die damalige Diskussion in Deutschland, die 1955 gegründete Bundeswehr auch mit Atomwaffen auszustatten. (Siehe E. Kraus: Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung, Würzburg 2001) Eigene Atomwaffen herzustellen war der jungen Bundesrepublik durch die Pariser Verträge von 1954 verboten. Die NATO hatte jedoch 1954 beschlossen, die numerische Überlegenheit der Warschauer Pakt-Streitkräfte durch taktische Atomwaffen „auszugleichen“. Im Oktober 1955 war zudem das „Bundesministerium für Atomfragen“ eingerichtet worden, nachdem Deutschland wieder erlaubt worden war, Forschung für die zivile Nutzung der Kernenergie zu betreiben. Erster „Atomminister“ war Franz Josef Strauß. Dieser forderte, die Bundeswehr müsse Zugang zu Atomwaffen bekommen, zumal er längerfristig mit dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa rechnete. Strauß hatte im Januar 1956 die „Deutsche Atomkommission“ gebildet, die im Sommer 1956 in dem „Arbeitskreis Kernphysik“ aufging. Mitglieder waren u.a. Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker. Diese hatten bereits im November 1956 in einem Brief an Strauß, nun seit Oktober 1956 Verteidigungsminister, und an den neuen Atomminister Siegfried Balke ihre Bedenken bezüglich neuer Atomwaffen in Deutschland geäußert. Ein treibendes Motiv waren sicher auch die Erfahrungen der deutschen Wissenschaftler im Rahmen des Uranvereins im 2. Weltkrieg. Der Brief war bereits von 14 der späteren Göttinger 18 unterschrieben. In der Ausrüstung der Bundeswehr sähen sie den „falschen Weg“…, „eine Gefahr für Deutschland und einen Nutzen für niemanden“ (E. Kraus, Physik Journal 6/2007 Nr.4 S.39). Am 29. Januar führte Strauß ein Gespräch mit der Gruppe, in dem er zwar eigene deutsche Atomwaffen ablehnte, sich aber für eine westeuropäische Atombewaffnung aussprach. Weizsäcker schrieb: „Wir waren zum Schweigen gebracht, aber nicht überzeugt“. Einige der Gesprächsteilnehmer forderten, die Gruppe solle sich nun nicht weiter in die Politik einmischen. Insbesondere ging es aber Weizsäcker um eine „deutsche Erklärung“ zur Atomwaffenfrage, auch vor dem Hintergrund der unterstellten Ambitionen des Uranvereins. So wollte er auch die Reputation der deutschen Atomforscher wiederherstellen. Als Bundeskanzler Adenauer in einer Bundespressekonferenz am 5. April 1957 taktische Nuklearwaffen beschwichtigend als „ beinahe normale Waffen“ und die Weiterentwicklung der Artillerie bezeichnete, formulierte C.F. von Weizsäcker in Absprache mit Heisenberg den Text der Erklärung und bekam die Unterstützung der Gruppe sowie von Max Born, Walther Gerlach, Max von Laue, Fritz Strassmann, Karl Wirtz und Rudolf Fleischmann. (Siehe auch Ulrich Bartosch: Weltinnenpolitik. Zur Theorie des Friedens von Carl Friedrich von Weizsäcker, Berlin 1995) Die „Erklärung der 18 Atomwissenschaftler“ wurde am 12. April 1957 von der DPA verbreitet. Der Text schaffte es auf die Titelseiten der Tageszeitungen und erzeugte einen umfassenden Widerhall bei Kirchen, Gewerkschaften und Parteien. DDR-Forscher veröffentlichten am 14. April 1957 eine „Dresdner Erklärung“, weitere folgten, so z.B. eine Resolution gegen Atomversuche am 17. April 1957 durch 14 namhafte Kernphysiker der Physikalischen Gesellschaft der DDR (darunter G. Hertz, M. Steenbeck). Aus den Göttinger 18 ging 1959 die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. (VDW) hervor, die bis heute für eine verantwortliche Wissenschaft eintritt und die deutsche Basis für die internationalen „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“ bildet. 1958 begannen mit der „Bewegung Kampf dem Atomtod“ Massenproteste gegen die nukleare Aufrüstung, die sich quer zu den Frontlinien des Kalten Krieges und der Parteilinien konstituierte. Die meisten der Göttinger waren aber eher konservativ eingestellt und beteiligten sich daran meist nicht. Insgesamt hat die GE enorm zur Schaffung einer Atmosphäre beigetragen, in der eine nationale nukleare Aufrüstung nicht ins Auge gefasst werden konnte. Dies hätten sicher auch die Alliierten nicht zugelassen. Leider ist aber die Problematik bis heute akut geblieben (siehe letzter Abschnitt) und zwar in Bezug auf zwei Fragen: Kann mit Atomwaffen mehr Sicherheit geschaffen werden und kann Atomenergie friedlich genutzt werden? Zentraler Punkt der GE war eindeutig die Friedensfrage, zu der sich 1957 ein großer Teil der führenden deutschen Atomphysiker so deutlich geäußert hatten. Der Abschlusssatz der Erklärung – „Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken“ – klingt aus heutiger Sicht (nach Tschernobyl und Fukushima) naiv, aber die Unterzeichner waren die führenden Repräsentanten der sich im Aufbau befindlichen Kernphysik, in die damals hohe Zukunftserwartungen gesteckt wurden. Sicher wollten Sie auch ihre Forschungen für zivile Zwecke absichern und weitertreiben. Es muss aber auch deutlich gemacht werden, dass die Linie zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Kernenergie generell dünn ist und enorme Anstrengungen (IAEA, Safeguards etc.) nötig sind, um Missbrauch oder militärischen Gebrauch zu verhindern.
„Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen“
Der recht kurze (ca. einseitige Text) besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil geht es um die katastrophalen Konsequenzen der Atomwaffen. Die Verfasser verweisen als „Fachleute“ auf die enorme Zerstörungskraft von „taktischen Atomwaffen“ und stellen sich damit gegen die verharmlosende Beschreibung Adenauers. Die damals in der Testphase befindlichen Wasserstoffbomben können „einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen“, sind also weitaus zerstörerischer als die „Hiroshima-Bomben“. Noch wichtiger und bis heute gültig: „Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen“. Interessant ist der zweite Teil, denn spätestens hier betreten die Göttinger 18 politisches Terrain. Sie sehen sich eher als „der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung“ verpflichtet und leiten ihre Verantwortung aus den „Folgen ihrer Tätigkeit“, also der Forschung und auch der Lehre her, „bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen“. „Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen“. Insbesondere nicht zu denen, die sich in Bezug auf das Wohl der Menschheit aus den eigenen Forschungen ergeben. Der dritte Teil betrifft den Bereich der Friedensicherung im Atomzeitalter. Nach einem Bekenntnis zur Freiheit aus westlicher Sicht und dem Zugeständnis, dass Wasserstoffbomben im Rahmen der Abschreckung einen „wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens“ leisten können, weisen die Unterzeichner darauf hin, dass sie die Abschreckung „auf die Dauer für unzuverlässig (…) und die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich“ halten. Auf konkrete politische Vorschläge wird verzichtet, aber die Schlussfolgerung ist unmissverständlich: „Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.“ Starkes Gewicht erhielt die Erklärung durch den vorletzten Satz: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Wenn die führenden Atomphysiker in diese Form eine unmittelbare Selbstverpflichtung eingehen, bekommt ein solches Manifest ein besonders starkes Gewicht.
Wie erfolgreich war die Göttinger Erklärung aus heutiger Sicht?
Obwohl die GE Signalwirkung hatte und über Jahrzehnte Massenproteste gegen eine Atombewaffnung Deutschlands losgetreten wurden, ist bis heute nicht ganz eingetreten, was sich große Teile der Bevölkerung, initiiert von den Göttinger 18, erhofft hatten. Das wiedervereinigte Deutschland hat zwar spätesten seit der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1991 auf „Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ verzichtet. In Ostdeutschland dürfen sogar keine Atomwaffen stationiert werden. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO könnten allerdings im Kriegsfalle deutsche Tornados „taktische Nuklearwaffen“ amerikanischer Herkunft abwerfen. In Büchel lagern noch ca. 20 freifallende Atombomben vom Typ B61 ebenso wie auf anderen Stützpunkten in vier anderen NATO-Ländern: Italien, Türkei, Belgien und den Niederlanden. Zum Einsatz dieser amerikanischen Bomben ist zwar ausschließlich zunächst der US-Präsident ermächtigt, aber die Trägersysteme, in diesem Falle Kampfflugzeuge aus NATO-Ländern, die nicht unmittelbar über Atomwaffen verfügen, werden auch von Bundeswehrpiloten geflogen. Da diese Waffen militärisch allein angesichts der inzwischen konventionellen Überlegenheit der NATO unsinnig sind und eine Gefahr für Deutschland darstellen, haben einige deutsche Außenminister den Abzug dieser gefährlichen Waffen in der NATO vorgeschlagen, aber nicht erreicht. Manche Staaten werfen Deutschland, das nach den Bestimmungen des Nichtweiterverbreitungsvertrages ein Nichtkernwaffenstaat ist, Heuchelei vor. Allerdings ist und bleibt Deutschland Nichtkernwaffenstaat und unterstützt Barack Obamas Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt. Die Bundesregierung beteiligt sich allerdings leider nicht an den anstehenden UN-Verhandlungen für ein Verbot von Atomwaffen in New York, sondern favorisiert den schrittweisen komplementären Ansatz der Rüstungskontrolle, der sich zur Zeit in einer Sackgasse befindet. Angesichts der erratischen Äußerungen von US-Präsident Trump haben einige Kommentatoren sogar wieder eine „europäische Nuklearoption unter deutscher Beteiligung“ ins Spiel gebracht, eine Möglichkeit, die alle 10 Jahre wieder auftaucht. Abgesehen von der fehlenden nuklearen Infrastruktur, den enormen Kosten, den berechtigten Ressentiments in der deutschen Bevölkerung gegen Atomwaffen, würde dies angesichts vieler drängenderer Probleme keinen Sicherheitsgewinn bedeuten. Zu dieser Erkenntnis hat die Erklärung der Göttinger 18 sehr viel beigetragen.
Prof. Dr. Götz Neuneck