In Gedenken an Paul Josef Crutzen

*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Wir leben zwar noch im Erdzeitalter Holozän, das vor rund 12.700 Jahren begann als sich der Mensch sesshaft machte. Heute wird mehrheitlich in der wissenschaftlichen Community und zunehmend mehr im sogenannten Bildungsbürgertum vom Erdzeitalter des Anthropozäns ge­sprochen. Wa­rum? Weil wir als Weltgesellschaft längst das Holozän verlassen haben. Wir ha­ben es verlassen, weil der Mensch nahezu vollständig die Oberfläche der Erde massiv verändert hat – mehr als viele Naturgewalten. Dabei haben insbesondere die Menschen in den Ländern des Globalen Nordens das sechste große Massenaussterben in der Flora und Fauna ausgelöst, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit haben sie den rasanten Klimawandel mit seinen vielfältigen negativen Folgen für das Leben auf der Erde herbeigeführt und große Teile der nicht regene­rierbaren Ressourcen der Erde verbraucht. Auch die Coronavirus-Pandemie ist ein weiterer Be­weis dafür, dass der Mensch ein Übermaß an Manipulationen auf der Erde vor­nimmt. Das Coronavirus SARS-CoV-2 ist wie viele andere Viren nur dadurch entstanden, weil wir Men­schen die Tierwelt auf vielfältige Art gnadenlos ausbeuten und manipulieren. In den letzten Jahrzehnten haben die Zoonosen bzw. die Zooanthroponosen, deren Erreger überwie­gend aus dem Tierreich auf den Menschen übertragen werden, drastisch zugenommen.[1]

In meinem Buch »Anthropozän und Nachhaltigkeit. Denkanstöße zur Klimakrise und für ein zukunftsfähiges Handeln« (Mittelstaedt 2020) unterstütze ich mit der Beschreibung von 43 Tat­sachen (Markern) des Anthropozäns und vielen weiteren hochaktuellen Argumenten vehement die For­derung des am 28. Januar 2021 verstorbenen Nobelpreisträgers für Chemie Paul Josef Crutzen[2] und des im Jahr 2012 verstorbenen amerikanischen Ökologen Eugene F. Stoermer, dass das »Anthro­pozän« als ein neues Erdzeitalter offiziell ausgerufen und damit das beste­hende Erd­zeitalter »Holozän« abge­löst werden soll (siehe auch Crutzen und Stoermer 2000 und Crutzen 2002, 2011). Der Begriff »Anthropozän«[3] wurde von Paul Josef Crutzen geschaffen.

Das Ausrufen des Anthropozäns ist spätestens seit dem 21. Mai 2019 nicht mehr unrealis­tisch, denn an diesem Tag hat sich die vom britischen Paläobi­olo­gen Jan Zala­siewicz geleitete und aus 34 Personen bestehende Arbeitsgruppe mehrheitlich dafür ausgesprochen, dem Anth­ro­pozän den offiziellen Status zu ver­leihen. Das Wis­sen­schaftsmagazin »Nature News« titelte: »An­thropocene now: in­fluential panel votes to recognize Earth’s new epoch. ›Atomic Age‹ would mark the start of the current geologic time unit, if pro­posal receives final approval. (Anthro­pozän jetzt: Einfluss­reiche Arbeitsgruppe stimmt ab, um die neue Epoche der Erde an­zuer­kennen. Das Atomzeitalter würde den Beginn der aktuel­len geo­logischen Zeiteinheit mar­kieren, wenn der Vorschlag endgültig genehmigt wird.).«[4] Dem Bericht von »Nature News«[5] ist zu entnehmen, dass die 34 Mitglieder umfassende »Arbeits­gruppe Anthropozän« von der Internationalen Stratigra­fischen Kommission eingesetzt wurde. Schon bei der Probe­ab­stim­mung im Jahr 2016 haben sich ihre Mitglieder mehrheitlich für den of­fiziellen Status des Anth­ropozäns als neues Erdzeital­ter ausge­sprochen. Nun stimm­ten beim bindenden Votum am 21. Mai 2019 29 Teilnehmer da­für, vier dagegen. Ein Mitglied nahm nicht an der Abstim­mung teil.

Diese Entscheidung der 34-köpfigen Arbeitsgruppe Anthro­pozän ist ein wichtiger Schritt zur formalen Definition eines neuen Erdzeitalters – eine Idee, die in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Gemeinschaft intensive Diskussionen ausge­löst hat. Die Arbeitsgruppe Anthropozän plant, bis zum Jahr 2021 einen formalen Vorschlag für die neue Epoche bei der In­ternati­onalen Kommission für Stratigraphie einzureichen, die das offi­zielle geologische Zeit­diagramm überwacht. 29 Mitglie­der der Arbeitsgruppe Anthropozän unterstützten die Bezeich­nung Anthropozän und stimmten für den Beginn der neuen Epo­che in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, als eine schnell wach­sende menschliche Bevölkerung das Tempo der industriel­len Produktion, den Einsatz von Agrarchemikalien und andere menschliche Aktivitäten be­schleunigte. Gleichzeitig verstreuten die ersten Atombombenexplosionen die Erde mit radioak­tiven Ablagerungen, die in Sedimente und Gletschereis eingebettet wurden und Teil der geolo­gischen Aufzeichnung wurden. So­bald die Arbeitsgruppe Anthropozän ihren formalen Vor­schlag unterbreitet hat, wird er von mehreren weiteren Gruppen der In­ternationalen Kommis­sion für Stratigraphie geprüft. Wenn sie es über diese Gruppe hinausschafft, würde die endgül­tige Ratifizie­rung durch den Vorstand der Internationalen Union der Geo­wis­senschaften erfol­gen.

Auch das Wissenschaftsmagazin »Spektrum der Wissen­schaft« berichtete darüber am 23. Mai 2019 in seinem Online­dienst unter dem Titel: »Neues Erdzeitalter bald offiziell? Schon bald könnte das ›Menschenzeitalter‹ Anthropozän offiziellen Status erlangen. Doch umstritten bleibt die Frage: Wann begann es ei­gentlich?«[6]

Paul Josef Crutzen und Eugen F. Stoermer favorisierten den Beginn der ersten industriellen Revolution um das Jahr 1750 als Beginn des Anthropozäns. In ihrem berühmten Text »The Anthropocene« vom Mai 2000 schrieben sie dazu: »[…] To assign a more specific date to the onset of the ›anthropocene‹ seems somewhat arbitrary, but we propose the latter part of the 18th century, although we are aware that alternative proposals can be made (some may even want to include the entire holocene). However, we choose this date because, during the past two centu­ries, the global effects of human activities have become clearly noticeable. This is the pe­riod when data retrieved from glacial ice cores show the begin­ning of a growth in the atmospheric concentrations of several ›greenhouse gases‹, in particular CO2 and CH4 [..] « (Crutzen und Stoermer 2000, S. 17). Nachfolgend meine Übersetzung ins Deutsche: »Ein genaueres Datum für den Beginn des ›Anthro­pozäns‹ festzulegen, erscheint etwas willkürlich, aber wir schla­gen die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor, obwohl wir wis­sen, dass alternative Vorschläge gemacht werden können (einige wollen vielleicht sogar das gesamte Holozän einbeziehen). Wir wählen dieses Datum jedoch, weil in den letzten zwei Jahrhunderten die globalen Auswirkungen menschlicher Aktivitäten deutlich spürbar geworden sind. Dies ist der Zeitraum, in dem die aus den Gletschereiskernen gewonnenen Daten den Beginn eines Wachstums der atmosphärischen Konzentrationen mehre­rer ›Treibhausgase‹ markieren, insbesondere von CO2 und CH4 [..].«

Meiner Meinung nach wäre der Beginn der ersten industriel­len Revolution als Starttermin für das neue Erdzeitalter Anthro­pozän optimal, wofür ich in meinem Buch »Anthropozän und Nachhaltigkeit« zahlreiche Fakten anführe. Aber letztendlich ist für mich und sicherlich auch für viele An­hänger des Anthropozän-Konzepts der Zeitpunkt für den Be­ginn des Anthro­pozäns von nicht so großer Bedeutung. Wichtig wäre, dass das Anthropozän bald ausgerufen wird. Bei einer Datierung des Beginns des Anthropozäns, der nach der ersten industriellen Re­volution liegt, z. B. der Zeitpunkt der ers­ten Atomwaffenexplosion, also der Moment der De­tonation der Trini­ty A-Bombe in Alamogordo, New Mexico, am 16. Juli 1945, müssten Wis­senschaft­ler*innen, aber insbesondere der Vorstand der Internationalen Union der Geo­wissen­schaften, der das neue Erdzeitalter ratifiziert und dadurch ausruft, diese Entscheidung detailliert begrün­den. Durch die Be­gründung muss allen Menschen klar werden, dass die erste Atombom­benex­plosion nur mög­lich war, weil die Menschheit spätestens seit der ersten industriellen Re­volution dafür die Vo­raussetzungen geschaffen hat. In der Begründung muss eben­falls deutlich gemacht werden, dass die dramatischen Verände­rungen, die Menschen in der Biosphäre und Erdat­mosphäre her­bei­geführt haben, mit Sicherheit seit der ersten industriellen Re­volution nachweis­bar sind und seit der »großen Beschleuni­gung« zu Beginn der 1950er-Jahre bis heute permanent zuneh­men. Es sollte betont werden, dass mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Beschleuni­gung der Ein­griffe des Menschen auf der Erde noch einmal spürbar zugenommen haben. Der Vorstand der Internationalen Union der Geowis­senschaften sollte deutlich machen, dass die Eingriffe des Menschen auf der Erde die Zukunft des Homo sapiens bedrohen.

Das Konzept des Anthropozäns impliziert eindeutig die Botschaft zum Handeln in Richtung Nachhaltigkeit, weil die Begründung für das Ausrufen des neuen Erdzeitalters zu­sammenfasst, dass die Weltgesellschaft dabei ist, ihre Lebens­grundlagen und die der Flora und Fauna zu zer­stören. Deshalb ist das Konzept des Anthropo­zäns schon längst mehr als nur ei­ne mögliche Neuda­tie­rung ei­nes Erdzeitalters. Es ist der Auftrag an uns Menschen, unser Handeln so anzu­passen, dass der Pla­net Erde für alles Leben dauerhaft, also nachhaltig, erhalten bleibt. So sah es auch Paul Josef Crutzen, der von 1980 bis 2000 als Direktor die Abteilung Atmosphärenche­mie am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz leitete. Die Max-Planck-Gesellschaft schrieb über seine Prägung des Begriffs Anthropozän: »Er schlug den Begriff vor, um das aktuelle Zeitalter zu beschreiben, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren der atmosphäri­schen, biologischen und geologischen Prozesse auf der Erde geworden ist und die Entwicklung des Planeten prägt. Paul Crutzen selbst sagte über die wissenschaftlichen und ge­sellschaftlichen Auseinandersetzungen, die auf seinen Vorschlag zum Begriff des Anthropo­zäns folgten: ›Ich sehe die Debatte als eine Chance, zu der ökologischen Neuorientierung zu kommen, die drin­gend erforderlich ist.‹«[7]

Das Ausrufen des Anthropozäns als neues Erdzeitalter könnte für viele Menschen auf der Welt ein ganz neues Denken auslö­sen und im Kampf um den Erhalt der Lebensgrundlagen der Er­de den entscheidenden glo­balen Handlungsimpuls liefern. Damit könnte »eine kritische Masse« an handelnden Personen entste­hen, die in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Ge­sellschaft Lösungen für eine wirklich nachhaltige Weltgesell­schaft vorantreiben, die von den Bevölkerungen mitgetragen und mitgelebt werden. Das ist von größter Bedeutung für die Zukunft, weil acht globale Megatrends, die ich in »Anthropozän und Nachhaltigkeit« detailliert beschrieben habe und die erst durch das Anthropozän entstanden sind, die Zukunft Homo sapi­ens bedrohen. Es sind: 1. Der durch Menschen verursachte Kli­mawandel. 2. Das sechste große Massenaussterben. 3. Starkes Bevölkerungswachstum und der damit einhergehende Naturver­brauch. 4. Ungebremster Verbrauch an erneuerbaren und nicht erneu­erbaren Ressourcen. 5. Bodendegradation und Flächenverbrauch. 6. Abnahme der Bio­diversität und die Überlastung der Bioka­pazität der Erde. 7. Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. 8. Weltweite Militär­ausgaben und die Produktion von CBRN-Waffen (che­misch, bi­ologisch, radiologisch und nuk­lear). 

Mit dem Ausrufen des Anthropozäns als neues Erdzeitalter würden nicht nur Lehrbücher geändert und viel mehr Menschen als heute über die Hintergründe für diese Entscheidung in­for­miert. Es würde eine ganz neue Dimension in der Debatte über die Zerstörung der Lebens­grundlagen der Erde durch den Men­schen entstehen. Eine Debatte, die den Alltag der Menschen dauerhaft und über Generationen verändern wird. Denn eines steht fest: Die Erreichbarkeit des Ziels einer globa­len nachhalti­gen Ent­wicklung wird unter den bestehenden Wertorientierun­gen, Denk- und Hand­lungsmus­tern immer unwahrscheinlicher.

Wir müssen für eine dauerhaft lebenswerte Zukunft unsere Wertorientierungen, Denk- und Handlungsmuster ändern. Das be­deutet, dass die Weltgesell­schaft dringend einen Ausgleich ge­stalten muss, der den Be­dürfnissen der noch immer wach­senden Welt­gesellschaft und den Mög­lichkeiten der Bio­sphäre der Erde und der Erdat­mosphäre gerecht wird, um viel­fältiges Leben (Men­schen, Tiere und Pflanzen) mit akzeptablen Lebensbedin­gungen dauerhaft zu ermögli­chen. Dafür muss Nachhaltigkeit auf al­len Ebenen menschlichen Handelns konse­quent reali­siert wer­den.

Fußnoten

[1] Siehe auch zoonosen.net/zoonosenforschung

[2] Im Jahr 1995 zusammen mit Prof. Mario J. Molina (Mexiko) und Prof. Frank Sherwood Row­land (USA) für die Entdeckung des Ozonlochs.

[3] Altgriechisch ἄνθρωπος ánthropos = Mensch und καινός = neu. Das Neue (καινός), das der Mensch (ἄνθρωπος) hervorgerufen hat. In den Erdsystem­wis­senschaften wird das Anthropozän als das Zeitalter des Menschen be­zeichnet.

[4] www.nature.com/articles/d41586-019-01641-5 (abgerufen am 01.02.2021)

[5] ebd.

[6] www.spektrum.de/news/neues-erdzeitalter-bald-offiziell/1647460 (abge­rufen am 31.07.2019)

[7] Siehe www.mpg.de/trauer-um-paul-crutzen (abgerufen am 02.02.2021)

Literaturnachweise

Crutzen, Paul J. und Eugene F. Stoermer (2000). »The ›Anthropocene‹ «. In: Global Chance NewsLetter, May 2000, Stockholm: IGBP Secretariat, The Royal Swedish Academy of Sciences, Sweden, S. 17-18.

Crutzen, Paul J. (2002). »Geology of mankind – The Anthropocene« In: Na­ture 415, S. 23.

Crutzen, Paul J. (2011). »Die Geologie der Menschheit«. In: »Die Erde hat keinen Notausgang«, Berlin: Suhrkamp Verlag.

Mittelstaedt, Werner (2020). Anthropozän und Nachhaltigkeit. Denkanstöße zur Klimakrise und für ein nachhal­tiges Handeln. Berlin et al.: Peter Lang.

(c) Werner Mittelstaedt, Haltern am See (16. Februar 2021)

Werner Mittelstaedt
Werner Mittelstaedt
Jahrgang 1954, ist Autor, Zukunftsforscher und Zukunftsphilosoph, sowie Herausgeber der seit dem Jahr 1981 erscheinenden Zeitschrift BLICKPUNKT ZUKUNFT, die vom Oktober 2008 bis April 2014 gemeinsam mit der VDW herausgegeben wurde (www.blickpunkt-zukunft.com). Seine Arbeit hat sich darauf fokussiert, an Konzepten und realistischen Wegen, die in die Richtung der nachhaltigen globalen Entwicklung führen sollen, mitzuarbeiten. Darüber hinaus hat er sich vielfach mit der Friedenssicherung und Friedensforschung beschäftigt. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind u. a. in den 41 Jahrgängen der Zeitschrift »Blickpunkt Zukunft«, in vielen Buch- und Zeitschriftenaufsätzen und in den folgenden Büchern enthalten: »Wachstumswende. Chance für die Zukunft« (1988), »Zukunftsgestaltung und Chaostheorie« (1993), »Der Chaos-Schock und die Zukunft der Menschheit« (1997), »Frieden, Wissenschaft, Zukunft. 21. Visionen für das neue Jahrhundert« (2000), »Kurskorrektur. Bausteine für die Zukunft« (2004), »Das Prinzip Fortschritt. Ein neues Verständnis für die Herausforderungen unserer Zeit« (2008), »SMALL. Warum weniger besser ist und was wir dazu wissen sollten« (2012), »Tipping Point. (Ein Roman über den Klimawandel)« (2017) und »Anthropozän und Nachhaltigkeit. Denkanstöße zur Klimakrise und für ein zukunftsfähiges Handeln« (2020). Details über diese Bücher finden Sie unter: www.werner-mittelstaedt.com/meine-buecher.html. 2016 schrieb er zudem das Theaterstück »Tipping Point – Kipp-Punkt«, das in der Theaterbörse GmbH in Braunschweig erschienen ist. Detaillierte Informationen über Werner Mittelstaedt und seine Arbeit als Zukunftsforscher finden Sie auf seiner Website: www.werner-mittelstaedt.com.