*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Für immer mehr Intellektuel­le, Politikerinnen und Poli­tiker, Wis­senschaftlerinnen und Wissenschaftler aus nahezu allen Diszipli­nen stellt sich nicht im Geringsten die Fra­ge, dass die Weltgesell­schaft das Erd­zeit­alter des Anthro­po­zäns (Zeitalter des Men­schen) er­reicht hat. Die Existenz des Anthro­pozäns wird durch unzählige folgenschwere Ein­griffe des Men­schen in die Bi­o­sphäre und Erdatmosphäre am deut­lichsten. Sie führten zu der Tat­sache, dass der schon angelaufene Klima­wan­del durch den Men­schen ver­ursacht wurde.

Der Mensch hat sich definitiv zum geologi­schen Faktor der Erde ent­wickelt, was seit ihrer Ent­stehung nur den Naturkräften vorbehalten war.

Seinen Einfluss auf die belebte und unbelebte Natur der Erde übt der Mensch mit zu­nehmender Beschleunigung aus. Dadurch wurde die Komplexität in den menschlichen Gesellschaften so gestei­gert, dass wir inzwischen auf Gedeih und Verderb auf eine hochtechnisierte, extrem komplexe Infrastruktur angewiesen sind, in der schon kleinste Störungen katastrophale Folgen ha­ben können.

In diesem Kon­text haben Menschen überwiegend ihre ehe­mals nachhaltigen ökologi­schen, ökonomi­schen und gesell­schaftli­chen Strukturen aufge­geben. Das Er­gebnis ist, dass die Weltge­sell­schaft Tag für Tag an Zukunftsfähigkeit einbüßt.

Durch den Brundtland-Bericht der Weltkommis­sion für Um­welt und Ent­wick­lung, aber spätestens seit der Rio-Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Ent­wicklung, dem soge­nannten Erdgipfel, im Jahr 1992 wird die Dringlich­keit die nach­hal­tige Entwicklung auf der Erde zu rea­lisieren, po­litisch und ge­sellschaftlich debattiert. Zahlreiche Pro­jekte für die nachhaltige Entwicklung wurden realisiert, viele davon mit großem Er­folg. Aber in der Gesamtheit haben sich in den letzten Jahr­zehnten die ökologi­schen Krisen und Katastro­phen nachweislich ge­häuft. Ebenso haben sich weder vor noch nach der Rio-Konferenz nach­haltige Entwicklungen auf der Er­de so etablieren können, dass sie mit dem bestehenden Fortschritts­muster und dem Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts auch nur an­satzweise schritthal­ten konnten. Etwas pointiert for­muliert be­deutet Letzteres, dass etwa auf einen Quadratki­lometer neu aus­ge­wiesenes Natur­schutzge­biet, die Natur und Umwelt mit ei­nem neuen Einkaufs­zentrum und mindestens sechzig neuen Ein- und Mehrfamilienhäu­sern »zurechtkommen« muss.

Vor der Coronavirus-Pandemie war das Niveau des quantitati­ven sozioökonomischen Wachstums auf dem höchsten Stand in der Geschichte der Weltgesellschaft. Ganz kurz: Es wurde das meiste Erdöl gefördert, die meisten Autos gebaut, nie zuvor wa­ren mehr Men­schen in Flugzeugen gleichzeitig in der Luft, es wurden die meis­ten Flächen versiegelt, das meiste Fleisch geges­sen, die meisten Waren produziert und transportiert und so weiter und so fort. Die sozioökonomischen Aktivitäten ha­ben gravie­rende negative Folgen für das Erdsystem und mindern die Quali­tät der Erde, ihre großar­tige Vielfalt des Lebens (Men­schen, Tie­re, Pflan­zen) mit ak­zeptablen Lebensbedingungen dauer­haft si­cher­zustellen, weil die Reaktionsfähigkeit der Biosphäre der Erde und der Erdatmosphäre schon seit Jahrzehnten überschritten wer­den. Kurzum: Das von den Ländern des Nor­dens geprägte Fort­schrittsmuster, das inzwischen praktisch auch von allen Schwel­lenländern und den Ländern des Südens über­nommen wurde, ist nicht zukunftsfähig. Dann kam die Coronavirus-Pandemie. Sie führte zur größten Entschleuni­gung der globalen sozioökono­mi­schen Aktivitäten seitdem das Anthropozän be­steht. Die Maß­nah­men, die zu ihrer Be­kämpfung weltweit ergriffen wur­den, über­treffen alles, was bislang ge­gen die vielen Krisen und Kata­stro­phen im Anthropozän unter­nommen wurde. Weder die Groß­de­monstrationen gegen die Kli­makrise und für mehr Kli­ma­schutz, die die globale Bewegung »Fridays for Fu­ture« und an­dere Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten bislang weltweit zu­stande brachten, noch die nicht mehr zählbaren Aktionen für den Natur- und Um­weltschutz, die regelmäßigen Warnungen von Wissen­schaftlerinnen und Wis­sen­schaftlern sowie von Nichtre­gierungsorgani­sationen aus dem Na­tur- und Umwelt­schutz und der Wissen­schaft, weder die mahnen­den Worte vom Papst durch seine im Jahr 2015 veröffentlichte Enzyklika »Laudato si«, noch die von ungezählten Intel­lektuellen waren so fol­genreich wie die drin­gend notwendigen Maßnahmen gegen die Coronavirus-Pan­de­mie. Der Grund da­für ist die kollek­tive Angst vor dem Corona­vi­rus und seinen extrem schwerwie­genden Folgen. Die Angst da­vor übertrifft deutlich die Angst vor den Folgen des Klimawan­dels und der fortschreitenden Zer­störung der Le­bens­grundlagen der Erde.

Ein winzig kleines »Ereignis« in Form ei­nes sich zur Pande­mie ausbreitenden neuen Virus hat dazu geführt. Inzwischen wird schon von einem Krieg gegen das neue Sars CoV-2-Virus gespro­chen. Ein Krieg gegen einen Gegner, der nicht einmal zu den Le­bewesen auf der Erde zählt, was unter Virologen unstrittig ist. Epidemien und Pandemien sind aber nichts Neues. Sie begleiteten die Menschheit tausende Jahre lang und sie begleiten auch die heuti­ge Weltgesellschaft. Im 20. Jahrhundert haben sie viele Mil­lio­nen To­desopfer gefordert. Aber in der Weltgesellschaft des 21. Jahr­hunderts mit derzeit 7,78 Milliarden Menschen und der hoch­gra­dig vernetzten wirtschaftlichen Globalisierung sowie »ei­ner per­manenten Völkerwanderung« durch den globalen Touris­mus breitet sich jede Pandemie noch schneller aus als in früheren Zei­ten, so dass die me­dizinischen Kapazitäten unter enormen Druck geraten. Sie können oft nicht alle erkrankten Menschen versorgen und betreuen.

Schlägt durch die Coronavirus-Pandemie die Natur deshalb zurück, weil wir sie durch unser nicht nachhaltiges sozioökono­misches Fortschrittsmodell fortwährend ge­fährden und zerstören?

Unstrittig sollte sein, dass die Coronavirus-Pandemie auch ent­standen ist, weil wir Menschen die Pflanzen- und Tierwelt rück­sichtslos manipulieren, ausbeuten und zerstören. Homo sapiens hat das Gleichgewicht der Pflanzen- und Tierwelt spätestens seit der ersten industriellen Revolution immer mehr gestört.

Die Liste der vielen notwendigen po­litischen Maßnahmen zur Verlangsamung der Coronavi­rus-Pandemie, um Men­schen zu schützen und die Gesundheits­systeme nicht zu überlas­ten, ist sehr lang. So wurde der globale Tourismus – eine der Ur­sachen von Pandemien jedweder Couleur – rasch gestoppt. Durch den Corona-Lockdown gibt es weltweit viele Berufsverbote und stark reduzierte Produktionen. Aufgrund der wechselsei­tig ext­rem ab­hängigen globalisierten Weltwirt­schaft wurden viele Zu­lieferer­ketten (z. B. in der Au­tomobilwirt­schaft) unterbrochen und durch »social distancing / stay home!« wurde das öffentliche Leben her­untergefahren.

Es stellt sich die Frage, ob diese Zäsur durch die Corona­vi­rus-Pandemie für die Weltgesell­schaft nicht auch dauerhafte Auswir­kungen auf das bestehende Fortschritts­muster und damit auf das quantitative sozioöko­nomi­sche Wachs­tum haben wird? Es hätte Auswirkungen, wenn aus den Maßnah­men, die gegen die Corona­virus-Pandemie getroffen wurden, auch im Kampf gegen die Kli­makrise und den vielen an­deren Kri­sen der Weltgesellschaft ge­lernt würde, was sehr zu hof­fen ist.

Die Entscheider in den politischen, ökonomischen und wissen­schaftlich-techni­schen In­stitutionen müssen sich fra­gen, ob die wirtschaftliche Globalisie­rung dahingehend kor­rigiert werden sollte, die vielen Transport­wege für Zuliefererdienste durch mehr regional tätige Zulieferer und eine höhere Lager­haltung zu redu­zieren. Es muss hinterfragt wer­den, ob die Gesundheitssys­teme nicht weiter von pharmazeuti­schen Produkten, medizini­schem Zubehör und Apparaturen ab­hängig sein dür­fen, die weit entfernt produziert und die im Notfall knapp werden. Auch sollte der glo­bale Tou­ris­mus hinterfragt werden, der sich völlig neu auf­stellen müsste. Er dürfte, insbeson­dere auf­grund der Klimakrise, nur noch sehr geringfügig aus Flugreisen und Reisen mit Kreuz­fahrt­schiffen bestehen, die nicht mit regenerativ erzeugten Treibstof­fen angetrieben werden. Diese weni­gen Fragestellungen stehen exemp­larisch für viele weitere Fra­gen, die durch die Coronakrise »an die Oberfläche gespült wur­den«.

Durch die Coronakrise wurden auf nahezu allen Ebenen menschlichen Handelns Lernpro­zesse vorangetrieben, die wir auch im Kampf gegen die vielen Krisen im Anthropozän nutzen sollten. Wird durch sie auch die dringend notwendige »zweite Aufklärung« gefördert, die unabdingbar ist, um die Herausforde­rungen des Anthropozäns zu meis­tern?

Die meiste Zeit, in der »Anthropozän und Nachhaltigkeit« ge­schrieben wurde, gab es das Coronavirus nicht. Aber durch die Coronavirus-Pandemie wurde die Kern­aussage die­ses Bu­ches zu­sätzlich dramatisch be­stätigt: Wenn wir nicht mas­siv gegen die Klimakrise vorgehen und ein wirklich nachhaltiges Handeln durchsetzen, dann gefähr­den wir alles Le­ben auf der Erde – auch das Leben des Homo sapiens. Nun ist die Zeit zum Umdenken gekommen! Die Coronakrise ist War­nung und Chance zugleich!

Wenn aus den Maßnahmen gegen die Coronakrise gelernt würde, dann würden konkrete Handlungen gegen die Klima­krise und für zukunftsfähiges Handeln, verglichen mit denen ge­gen die Coronavirus-Pandemie, das Leben der Menschen nahezu nicht beein­trächtigen. Der Gewinn an Zukunftsfähigkeit und Le­bens­qualität wäre aber enorm!

»Anthropozän und Nachhaltigkeit« richtet sich an je­den Ein­zelnen und an alle Ent­scheidungsträgerinnen und Ent­scheidungs­träger in Politik, Wirt­schaft, Gesellschaft, Wissen­schaft und Technologie. Es liefert vertiefendes Wissen über das Anthropo­zän sowie Aufklärung und ein re­alistisches Konzept, um wirksa­men Klimaschutz voranzutreiben und zu­kunftsfähiges Handeln einzuleiten. Darüber hinaus unterstützt es auf dem aktuellsten Stand des Wissens den niederländischen At­mo­sphärenforscher und Nobelpreisträger für Chemie, Paul J. Crutzen, und den im Jahr 2012 verstorbenen amerikanischen Ökologen, Euge­ne F. Stoermer, die den Begriff »Anthropozän« für unsere der­zeitige geochronologische Epoche (Erdzeitalter) im Jahr 2000 vorge­schlagen haben und eine Ausrufung des Anthropozäns als neues Zeitalter forderten. Dementsprechend wiederholen die Buchthe­sen mit ei­ner Fülle von Argumenten auch die Ausrufung des Anthropo­zäns als neues Erdzeitalter.

Werner Mittelstaedt

Autor, Zukunftsforscher und Zukunftsphilosoph sowie Herausgeber der Zeitschrift „Blickpunkt Zukunft“

Peter Lang – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Berlin,
Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien 2020.

242 Seiten, Hardcover, 4 farb. Abb., Personen- und Sachregister,
€ 29.95, ISBN: 978-3-631-82523-1

(In allen E-Book-Formaten erhältlich!)

Kurzbeschreibung des Verlages:  

Was genau ist das Anthropozän und wie ist es entstanden? Wel­che Kräfte wirken in ihm? Wohin führt es die globale Zivilisa­tion? Hat das Anthropozän die Klimakrise herbeigeführt? Gibt es durch das Anthropozän praktisch keine reale Nachhaltigkeit mehr? Was kann aus den vielen Krisen im Anthropozän gelernt werden?

Diese Fragestellungen werden gut lesbar und anschaulich auf dem aktuellen Stand der Dinge behandelt. Auf dieser Basis stellt der Autor einen detaillierten Plan zur Abschwächung der Klima­krise vor, der durch einzelne Staaten verwirklicht werden könnte. Außerdem präsentiert er ein Konzept zur Erzielung realer Nach­haltigkeit und begründet, warum das Anthropozän als neues Erd­zeitalter ausgerufen werden sollte.

In diesem Kontext geht der Autor auch auf die Coronavirus-Pandemie ein.

Das Buch schließt mit der Aufforderung, die »zweite Aufklä­rung« voranzutreiben. Sie ist notwendig, um das noch verblei­bende Zeitfenster von wenigen Dekaden zu nutzen, damit das Anthropozän zukunftsfähig wird.

Werner Mittelstaedt, 10. Mai 2020

Werner Mittelstaedt
Werner Mittelstaedt
Jahrgang 1954, ist Autor, Zukunftsforscher und Zukunftsphilosoph, sowie Herausgeber der seit dem Jahr 1981 erscheinenden Zeitschrift BLICKPUNKT ZUKUNFT, die vom Oktober 2008 bis April 2014 gemeinsam mit der VDW herausgegeben wurde (www.blickpunkt-zukunft.com). Seine Arbeit hat sich darauf fokussiert, an Konzepten und realistischen Wegen, die in die Richtung der nachhaltigen globalen Entwicklung führen sollen, mitzuarbeiten. Darüber hinaus hat er sich vielfach mit der Friedenssicherung und Friedensforschung beschäftigt. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind u. a. in den 40 Jahrgängen der Zeitschrift »Blickpunkt Zukunft«, in vielen Buch- und Zeitschriftenaufsätzen und in den folgenden Büchern enthalten: »Wachstumswende. Chance für die Zukunft« (1988), »Zukunftsgestaltung und Chaostheorie« (1993), »Der Chaos-Schock und die Zukunft der Menschheit« (1997), »Frieden, Wissenschaft, Zukunft. 21. Visionen für das neue Jahrhundert« (2000), »Kurskorrektur. Bausteine für die Zukunft« (2004), »Das Prinzip Fortschritt. Ein neues Verständnis für die Herausforderungen unserer Zeit« (2008), »SMALL. Warum weniger besser ist und was wir dazu wissen sollten« (2012), »Tipping Point. (Ein Roman über den Klimawandel)« (2017) und »Anthropozän und Nachhaltigkeit. Denkanstöße zur Klimakrise und für ein zukunftsfähiges Handeln« (2020). Details über diese Bücher finden Sie unter: www.werner-mittelstaedt.com/meine-buecher.html. 2016 schrieb er zudem das Theaterstück »Tipping Point – Kipp-Punkt«, das in der Theaterbörse GmbH in Braunschweig erschienen ist. Detaillierte Informationen über Werner Mittelstaedt und seine Arbeit als Zukunftsforscher finden Sie auf seiner Website: www.werner-mittelstaedt.com.