*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden eine Reihe von Herausforderungen für die soziale Sicherheit mit sich bringen: Effekte auf den Arbeitsmarkt, Folgen für den sozialen Zusammenhalt, Herausforderungen für die Sozialversicherung und die Frage nach einer Europäisierung von Sozialpolitik.

Arbeitsmarkt

Die Auswirkungen auf die Beschäftigung werden unterschiedlich eingeschätzt. Es scheint jedoch so zu sein, dass Robotik und Automatisierung sich stärker in den Fertigungsberufen auswirken werden, während soziale und kulturelle Dienstleistungsberufe als am wenigsten substituierbar gelten. Hingegen scheint KI sich stärker auszuwirken auf Menschen mit Bachelor-Abschluss; Robo-Anwälte und das Erstellen medizinischer Diagnosen mithilfe von KI stehen hierfür beispielhaft. Wenn auch die Auswirkungen auf die Beschäftigung noch nicht klar absehbar sind, scheint sich ein Trend fortzusetzen: die stärkere Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zwischen Berufen mit geringem und hohem Qualifikationsniveau auf der einen Seite, die ein höheres Beschäftigungswachstum aufzeigen im Vergleich zu Berufen mit mittlerem Ausbildungsniveau.

Sozialer Zusammenhalt

Der Trend zu einer wachsenden Ungleichverteilung von Einkommen wird sich fortsetzen und im Zusammenhang mit der Digitalisierung verschärft sich die neue soziale Frage: steigende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, Ausbreitung des Armutsrisikos, Verlust sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, unzureichende Absicherung bestimmter Gruppen von Beschäftigten. Auch werden Automatisierung und KI bestehende regionale Disparitäten verstärken, Regionen mit Standortvorteilen werden diese weiter ausbauen können, andere bleiben zurück. Dies wird erhebliche Folgen für den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität der Demokratie mit sich bringen.

Sozialversicherung

Wie können Cloudworker, deren Arbeit ortsunabhängig ist, die vollständig über das Internet abgewickelt wird, künftig in die soziale Sicherung einbezogen werden? Bei sogenannten Gigworkern, z. B. online-vermittelten Fahrdiensten oder Essenslieferanten, stellt sich dieselbe Frage. Zudem zeigt sich, wie schwer es ist, deren Interessen zu vertreten. Manche sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einem digitalen Proletariat.

Zwei Entwicklungstrends, die schon in der Vergangenheit gewirkt haben, werden helfen, diese Herausforderungen zu meistern. Mit dem Fortschritt der Produktivität ging eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit einher. Um die Effekte von Digitalisierung und KI auf die Beschäftigung abzumildern, sollten weitere Verkürzungen, insbesondere der Wochenarbeitszeit angestrebt werden, um den Gewinn an Lebensqualität gerechter zu verteilen.

Die sozialen Sicherungssysteme in Europa haben immer größere Teile der Bevölkerung einbezogen und das Niveau der materiellen Absicherung hat zugenommen. Die Vollendung könnte in einer Sozialversicherung für alle Erwerbstätigen liegen, die alle Formen der Erwerbstätigkeit – auch prekär selbstständige Gigworker – und auch Wechsel zwischen den Erwerbsformen im Laufe eines Erwerbslebens gut absichert. Die Erwerbstätigenversicherung ließe sich mit einem Modell digitaler sozialer Sicherung verknüpfen, zu dem die Auftraggebenden von Plattformarbeit mit einem bestimmten Prozentsatz des Auftragswertes zur sozialen Absicherung beitragen. Das könnte auch ein Ansatzpunkt für Überlegungen zu mehr sozialpolitischen Anstrengungen auf europäischer Ebene sein.

Einen Pfad müssen wir aber möglicherweise verlassen: In der Vergangenheit wurde nicht wirklich umverteilt, sondern nur der ökonomische Zuwachs verteilt. Um die digitale Dividende gleichmäßiger zu verteilen, brauchen wir eine Debatte über wirkliche Umverteilung. Modelle zur Debatte wären die Wertschöpfungsabgabe, die Veränderung der Eigentumsverhältnisse in der Digitalwirtschaft (die Menschen werden selbst Eigentümer ihrer Daten) oder Unternehmensbeteiligung für Mitarbeitende in der Digitalwirtschaft. Die bereits erfolgte Verständigung der G20 auf die Einführung der globalen Mindeststeuer war ein Schritt in die richtige Richtung, denn sie trägt dazu bei, dass global agierende Internetkonzerne ein wenig mehr soziale Verantwortung tragen.

Das Thema ist ausführlicher behandelt im Kapitel „Neue Soziale Frage und Zukunft der sozialen Sicherung“ der Veröffentlichung: Wie wir leben wollen. Kompendium zu Technikfolgen von Digitalisierung, Vernetzung und Künstlicher Intelligenz. Siehe: https://www.logos-verlag.de/cgi-bin/engbuchmid?isbn=5363&lng=deu&id

Prof. Dr. Heinz Stapf-Finé
Prof. Dr. Heinz Stapf-Finé
Heinz Stapf-Finé ist Soziologe und Volkswirt. Er lehrt als Professor für Sozialpolitik an der Alice Salomon-Hochschule Berlin. Er hat zum Thema „Alterssicherung in Spanien“ promoviert und ist Experte im Bereich Arbeits- und Sozialpolitik. Vor seiner Berufung als Hochschullehrer war er Bereichsleiter Sozialpolitik beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Erste Berufserfahrungen sammelte er als Operations-Manager der Luxembourg Income Study und als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) Berlin. Er arbeitete dann als Referent für Politik der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Er ist Mitglied der VDW und seit 2017 der VDW-Studiengruppe Digitalisierung.