*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.
Eine Reflexion neuropsychischer motivationaler Einstellungen kann uns helfen, die möglicherweise paradoxen Folgen auch von gut gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten zu verstehen und vorzubeugen. Aus einer Reflexion zwischenmenschlicher auch politischer Kommunikationsmuster ergeben sich Lösungsansätze zur verantwortlichen Mitgestaltung einer vertrauensbasierten kooperativen sowie lebensförderlichen Kultur. Nicht das Coronavirus verändert die Welt, sondern die Antworten aller mitgestaltenden Menschen – aller Verantwortlichen.
Angst – vor Corona?
Persönlich habe ich keine Angst vor den Coronaviren – ich fühle mich recht gesund. Aber ich kann verstehen, dass Menschen Angst vor einer Infektion und um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen haben – besonders nach den Bildern von überfüllten Krankenhäusern und massenhaften Leichentransporten und den Horrorszenarien von Millionen Toten. Allerdings haben die meisten älteren Menschen, die ich getroffen habe, gesagt, dass sie keine Angst davor haben – auch nicht vor dem Sterben, wenn es denn sein soll. Das erinnert mich an meinen Vater, der kurz vor seinem Tode mit 92 Jahren mir erzählte, dass er in dem angenehmen Seniorenheim, in dem er fast 20 Jahre lebte, keinen kenne, der nicht sterben wolle. Dort wäre das Coronavirus möglicherweise ein willkommener Gast gewesen, eine natürliche Sterbehilfe. Als er dann nach einer Krebsoperation irgendwann aufhörte, etwas zu trinken, kam die Krankenschwester und wollte ihm eine Infusion anlegen. Auf seinen Widerspruch (er war zum Glück noch ganz klar im Kopf), meinte sie, wenn sie das nicht täte, wäre das „unterlassene Hilfeleistung“. Sie hatte wohl Angst vor einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung.
So reagieren Menschen mit sehr unterschiedlichen Ängsten, wenn es ums Sterben geht. Gibt es einen Schuldigen? Die Angst vor Kritik und Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung oder anderer Versäumnisse, nicht beachteter Regeln bei WissenschaftlerInnen, nicht getroffener Krisenvorbereitungen bei PolitikerInnen, oder Entscheidungen zugunsten von Wirtschaftsinteressen anstatt Menschenleben… Anschuldigungen können zu jedem Verhalten kommen, so gibt es viele Gründe für persönliche Ängste, wenn man in einer verantwortlichen Stellung ist.
Das daraus folgende Handeln lässt sich psychologisch leicht ableiten: Der Angstmotivierte versucht, seine Ängste zu teilen, um bei anderen Unterstützung zu finden gegen den bösen Verursacher wozu auch alle potentiellen Ankläger gehören. Das bedeutet, anderen Angst zu machen. Mit der schlimmsten Angst, der Todesangst kann man die meisten Menschen im Abwendungsmodus erreichen und zum Mitkämpfen motivieren. Angesichts einer Bedrohung fürs Leben schließen sich die meisten Menschen hinter ihrer Führung zusammen und sind bereit große Opfer zu bringen.
Dann ist ihr neuropsychisches Abwendungs-/Vermeidungssystem [1] über den Mandelkern (die Amygdala) angeschaltet und ihre ganze Aufmerksamkeit wird auf die potentielle Bedrohung gerichtet. Man will die Gefahr möglichst genau erkennen, um sie zu bannen. Alles muss ganz schnell gehen, wie z.B. bei einem Brand in der Küche, da muss sofort gelöscht werden und man kann nicht erst die Temperatur messen. Das Denken wird zweckmäßig eingeengt auf die Gefahr und ihre Abwendung und wird von dieser dominiert – es entsteht ein eingeengter Geisteszustand (lat.: Angina mentalis), der kaum eine andere Sicht zulässt und ebenso wenig eine Reflexion dieses Zustands.
Vertrauen in die Menschen
Tiefer als unsere Angst muss es allerdings noch etwas Grundlegendes geben, damit wir überhaupt handeln können, ja überhaupt Angst verspüren können. Dieses Grundlegende sehe ich im Urvertrauen ins Leben oder auch im Lebenswillen, der damit eng verbunden ist. So dürfen wir uns auch in der Angst und angesichts von Bedrohungen immer wieder auf dieses zugrundeliegende Urvertrauen ins Leben besinnen [2].
In der Not zeigen viele Menschen diese ihre gute Seite, die hilfreich und solidarisch ist. Das gibt uns weitere gute Gründe, in Menschen zu vertrauen.
So haben die Deutschen schon sehr früh bei der Ankündigung der ersten Maßnahmen, dem Großversammlungsverbot am 9.3., begonnen, sich vernünftig und kooperativ zu verhalten, wie am Verlauf der Ansteckungshäufigkeit, berechnet im R-Wert deutlich zu sehen ist. Die R-Kurve [3] änderte ihre ansteigende Richtung schon ab dem 10.3. und fällt seit dem 12.3. ab. Die Zahlen zeigen weniger einen Erfolg der Maßnahmen, als vielmehr das kooperative und vernünftige Verhalten der Mehrzahl der BürgerInnen, wenn sie entsprechend informiert sind. In diesen Zahlen finden wir einen Beweis für die Vertrauenswürdigkeit der BürgerInnen. Das Vertrauen in die Menschen wäre zu diesem Zeitpunkt also schon kein geschenktes oder gar blindes Vertrauen mehr gewesen, sondern bereits statistisch begründet ein sehendes Vertrauen.
Vertrauen ist mit dem motivationalen Annäherungs- und dem Kohärenzsystem [4] verknüpft. Diese Systeme sorgen dafür, dass wir uns lustvollen Annäherungszielen bzw. übergeordneten stimmigen Kohärenzzielen zuwenden und annähern.
Urvertrauen nenne ich das, was dem Leben immanent ist, das Vertrauen mit dem ein Neugeborenes den ersten Atemzug nimmt und die angebotene Milch trinkt. Durch negative Bindungserfahrungen wie auch Traumata in der frühen Kindheit kann dieses Urvertrauen geschmälert werden. Als Potential bleibt es weitgehend erhalten. Wenn wir im Kohärenzmodus sind und so mit unserem Urvertrauen verbunden, können wir gelassen sein. Wir können uns mit unserem Urvertrauen verbinden mit dem Satz: Ich atme also vertraue ich.
Dann können wir Gefahren kritisch angucken, auch unsere Angst spüren, wir müssen aber nicht gleich agieren, wenn nicht wirklich akute Lebensgefahr ist. In diesem vertrauensvollen Kohärenzmodus können wir weit denken und das ganze Leben in Betracht nehmen, nicht nur das Überleben. Wir können schauen, was uns wirklich bedeutsam ist, wie wir gut leben wollen und können – mit unseren nächsten Mitmenschen, in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt.
In dieser kohärenzbewussten Reflexion können wir unser Abwendungssystem im Zaum halten, abwägen und uns nüchtern relativierend fragen, wie wir gut leben und was wir tun wollen: mit, gegen und ohne Coronaviren.
Macht, Opfer und ein Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten
Wenn Menschen in verantwortlichen Positionen, auch wissenschaftlichen, primär abwendungsorientiert arbeiten, wie gegen die Gefahr der Coronaviren, können sie diese Bedrohung nicht mehr relativieren, sondern sie bemühen sich, etwas zu beweisen wie in einem Gerichtsprozess Recht zu bekommen.
„Leben retten“ wird gleichgesetzt mit Coronavirus bekämpfen. Das Abwendungssystem übernimmt die Führung im Denken und Handeln – auch über das eigentlich übergeordnete Kohärenzsystem um des Überlebens Willen. Das fordert Opfer. Wer das Opfer nicht bringen will, wird zum Opfer gemacht: Geldstrafe, Gefängnis oder Psychiatrie (wie in Sachsen geplant war). Diese Opfer bzw. alle, die sich als potentielle Opfer fühlen, fällen über die Verantwortlichen ein negatives Urteil und machen ihnen Vorwürfe. Diese fühlen sich dann wieder als Opfer einer Hexenjagd, Schmutzkampagne oder Verschwörungstheorie. Aus diesem Gefühl als Opfer heraus und ausgestattet mit der Staatsmacht verschärfen sie ihre Maßnahmen und Drohungen.
So entfaltet sich ein Interaktionsmuster von: Opfer retten wollen – Übeltäter bekämpfen und damit wieder neue Opfer produzieren – die dann ihrerseits wieder die ehemaligen Retter als Übeltäter bekämpfen – usw. usw.
Dieses Interaktionsmuster Macht-Opfer-Dreieck [5] erscheint als Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten im angstgetriebenen Abwendungsmodus. Es hat eine hohe Eigendynamik, die immer neue Opfer produziert, weil keiner gerne Opfer sein möchte (freiwillig Opfer bringen, ist etwas anderes) [6].
Eine weitere Gefahr der Angstmacherei besteht darin, dass BürgerInnen, wenn wirklich eine gefährliche Pandemie kommt, weder den Regierenden noch den ExpertInnen mehr glauben, weil sie nach der Vogel- und Schweinegrippe auch noch die Corona-Pandemie eher als Windmühlenflügel des Don Quijote denn als reale überall lauernde tödliche Gefahr erleben.
Verantwortung und Kultur
Eingangs habe ich die Geschichte von der helfen wollenden Pflegekraft im Seniorenheim meines Vaters erzählt, weil sie auch manche Angst von PolitikerInnen und ExpertInnen besser verständlich macht. Wenn es Verantwortlichen um das Leben und die Gesundheit gefährdeter Menschen geht, ergreifen sie ständig und auch vor einer absehbaren Gefahr geeignete Maßnahmen, damit es Menschen gut geht und gefährdete Menschen nicht zu Schaden kommen. Dazu gehören Investitionen in das Gesundheitssystem und die Aufklärung und Einbeziehung der BürgerInnen in Bezug auf ihre Anliegen und Handlungsmöglichkeiten.
In der Reflexion der Situation einschließlich unserer eigenen Gefühle, Motivation und Interaktionen kommen wir in den Kohärenzmodus der Gelassenheit. Wir als WissenschaftlerInnen – jeder für sich und viele gemeinsam – gehen dann Fragen nach wie: Was braucht die Menschheit zum guten Leben (uns selbst eingeschlossen)? Kurzfristig – mittelfristig – langfristig? Und was wollen und können wir in unserem Umfeld und in Deutschland dazu beitragen?
Fazit
Das Reflektieren unserer Motivationen und Interaktionsmuster kann uns helfen, Entscheidungsprozesse zu verstehen und bewusster mitzugestalten, insbesondere durch angemessene und das Denken öffnende Fragen und vertrauensvoll kooperative auch öffentliche Kommunikationsprozesse. Durch diese Reflexion können wir negativen Folgen unserer gut gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten im Abwendungsmodus vorbeugen – wirklich verantwortlich und zum Wohl aller Menschen kooperieren [7].
Eine solche Reflexion führt zu ähnlichem Handeln im Medizinsektor wie die ethischen Prinzipien aus der Genfer Deklaration im Oktober 2017 vom Weltärztebund [8]:
An erster Stelle steht das Wohlbefinden der Menschen, dann kommen ihre Autonomie und Würde und an dritter Stelle steht der „höchste Respekt vor menschlichem Leben“. Ein solcher Respekt beinhaltet noch weit mehr oder auch etwas gänzlich anderes, als nur mit allen Mitteln Menschen am physischen Leben zu erhalten.
Diese Deklaration endet mit dem Gelöbnis: „Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“
Theodor Dierk Petzold
Allgemeinarzt, Coach, Supervisor und Referent; European Certificate for Psychotherapy; Lehrbeauftragter an der MHH; Autor/Hrsg. zahlreicher Bücher; Entwickler und Ausbilder der Salutogenen Kommunikation SalKom® und des von den Krankenkassen certifizierten Stressmanagementtrainings TSF.
Literatur und Quellen
[1] Im deutschsprachigen Raum wird dies neuro-motivationale System meist „Vermeidungssystem“ genannt. Weil es aber nicht nur für das Vermeiden einer Gefahr verantwortlich ist, sondern auch für das aktive Abwenden, nenne ich es „Abwendungssystem“: man kann sich von der Gefahr oder diese abwenden.
Grawe K (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Petzold TD (2015): Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z.Allg.Med.10: 6-10 (2015); Petzold TD (2013): Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana.
[2] Petzold TD (Hrsg.)(2012): Vertrauensbuch – zur Salutogenese. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung
[3] RKI: Epidemiologisches Bulletin 17 | 2020. Online vorab: 15. April 2020
[4] https://www.gesunde-entwicklung.de/tl_files/user_upload/docs/Petzold-Kohaerenzsystem.pdf
[5] Petzold TD (2017) Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Salutogenese – Fokus auf die Genesung – nicht auf die Erkrankung! In: Der Allgemeinarzt 11/2017 S.64-68.
https://www.gesunde-entwicklung.de/tl_files/user_upload/docs/Petzold-Macht-Opfer-Dreieck.pdf
[6] Dieses Kommunikationsmuster wurde in seinem Kern schon 1968 von Karpman als Dramadreieck beschrieben.
[7] s. a. www.globale-ethik-blog.net
[8] https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf