*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Am 22. April dieses Jahres, dem internationalen Tag der Erde, geschah auf der Erde etwas höchst Außergewöhnliches: Wissenschaftler machten sich und die Bedeutung ihrer Arbeit für alle Welt sichtbar. Beim globalen „March for Science“ skandierten zehntausende Forscher in über 600 Städten lautstark gegen „alternative Fakten“, protestierten für eine freie Wissenschaft und zeigten auf höchst kreative Weise, warum wir die Wissenschaft brauchen. „Make America Smart Again“, „We love Experts“ und „Im OP ist kein Platz für alternative Fakten“ war auf den bunten Plakaten zu lesen, die von Ärzten, Physikern, Mathematikern, Politikwissenschaftlern und und und rund um den Globus in die Höhe gehalten wurden. Ein bislang einmaliges Ereignis. Auslöser für die Proteste waren bekanntermaßen wissenschaftsfeindliche Äußerungen und Maßnahmen des neuen US-Präsidenten Donald Trump.

Hier war es nun also soweit gekommen, dass Wissenschaftler Verantwortung übernahmen und sich öffentlich auflehnten gegen bedrohliche Repressalien. Sehr gut! Gerne mehr davon, denn: Die freie Wissenschaft ist ein hohes Gut und: sie ist in Gefahr, auch hier in Deutschland. Denn unsere Wissenschaft wird immer abhängiger von Forschungsgeldern, die mit einem gezielten wirtschaftlichen Interesse verbunden sind. Eine Wissenschaft hingegen, die zentrale Fragen und Lösungen für unsere Zukunftsfähigkeit frei von wirtschaftlichem Interesse erarbeiten kann, gerät mehr und mehr ins Hintertreffen. Eine öffentlich finanzierte ökotoxikologische Forschung über Risiken und Nebenwirkungen von massenhaft eingesetzten Chemikalien zum Beispiel findet kaum mehr statt. Mit den Konsequenzen haben wir Umweltverbände in der politischen Debatte um einen besseren Umwelt-, Natur- und Gesundheitsschutz fast täglich zu kämpfen. Zum Beispiel bei der Diskussion um die weitere Zulassung des weltweit am meisten eingesetzten Pflanzenschutzmittels Glyphosat: Hier liegt die Forschung zu gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen fest in den Händen der großen Hersteller des Breitbandherbizids. Das gleiche Bild bei der Nanotechnologie: Die Politik scheut eine unabhängige Risikoforschung bei einer Technologie, die bereits in Dutzenden von Alltagsprodukten angewendet wird und vertraut stattdessen auf die Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Hersteller. Eine gleichberechtigte Debatte um das Für und Wider solcher Techniken wird durch die Forschungsmacht und das Eigeninteresse der Konzerne auf der einen und die Untätigkeit der Politik auf der anderen Seite erschwert.

Es wäre jedoch zu einfach, das alles der Politik in die Schuhe zu schieben. Denn: Eine freie Wissenschaft ist nicht frei von Verantwortung. Die Wissenschaft trägt Verantwortung dafür, wie sich ihre Forschung auf gesellschaftliche Entwicklungen auswirkt. Die Wissenschaft trägt auch Verantwortung dafür, dass ihre Forschung das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung unterstützt: also einer Entwicklung, die den Bedürfnissen der jetzigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Insofern liegt es auch in der Verantwortung der Wissenschaft, sich von der Abhängigkeit von wirtschaftlich ausgerichteten Forschungsgeldern zu befreien und sich für eine stärkere Ausrichtung auf eine nachhaltige Wissenschaft einzusetzen. Beeindruckend, wie beim „March of Science“ Wissenschaftler genau darauf hinwiesen: dass ihre Forschung und daraus resultierende wissensbasierte Fakten zum Beispiel zum Klimawandel unabdingbar für eine verantwortungsvolle Politik und die Zukunft unseres Planeten sind.

Die freie und nachhaltige Wissenschaft hat den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) an ihrer Seite. Als Nutznießer wissenschaftlicher Ergebnisse zu mehr Nachhaltigkeit liegt es auch in unserer Verantwortung, diese zu unterstützen und stärker einzufordern. Ohne wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt wären viele sozial-, natur- und umweltpolitischen Probleme weder erkannt worden noch durchsetzbar gewesen. Insofern war Wissenschaft für zivilgesellschaftliche Organisationen schon immer wichtig. Der BUND hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Publikationen kritisch mit dem Wissenschaftssystem u.a. in Bezug auf Forschungsmittel und Hochschulgovernance auseinandergesetzt. Auch sind wir Teil der Plattform „Forschungswende“, der zivilgesellschaftlichen Schnittstelle, die den Aufbau einer transdisziplinären Forschungs- und Innovationspolitik unterstützt. Dieses Jahr haben wir zudem erstmals einen Forschungspreis ausgelobt, der wissenschaftliche Arbeiten für Nachhaltige Entwicklung anregt, herausragende Leistungen prämiert und damit zu einer stärkeren Ausrichtung des Wissenschaftssystems an den großen gesellschaftlichen Herausfor¬derungen beitragen möchte.

Eine Forschung unter dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung stellt aus unserer Sicht den Menschen und den Erhalt seiner natürlichen Lebensgrundlagen und nicht das Wirtschaftswachstum oder neue Technologien in den Vordergrund. Eine nachhaltige Forschung arbeitet integriert, das heißt sie fragt sich zum Beispiel in Bezug auf die zukünftige Energieversorgung: Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein, damit die Energiewende nicht nur technisch, sondern auch unter der Berücksichtigung von ökologischen, sozialen und kulturellen Aspekten so schnell wie möglich umgesetzt werden kann? Wir brauchen eine Forschung über den Tellerrand hinaus und mehr denn je ist dafür eine staatlich finanzierte Grundlagen-Forschung zu Fragen notwendig wie: Wie kann unsere Wirtschaft umgestaltet werden, wenn wir das Nachhaltigkeitsprinzip wirklich ernst nehmen? Oder: Wie kann sich unsere gesamte Gesellschaft in Richtung Suffizienz – also hin zu weniger Konsum und Rohstoffverbrauch –  entwickeln?

Um die nachhaltige Wissenschaft voranzubringen, fordern zivilgesellschaftliche Organisationen schon lange, besser am Wissenschafts- und Forschungssystem beteiligt zu werden. Und hier kommt dann nun doch auch – zwingendermaßen – die Verantwortung der Politik ins Spiel. Formal gab es hier in den letzten vier Jahren zwar eine Verbesserung der Beteiligung – zuletzt beispielsweise durch die Gründung der sogenannten „Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030“, in der Wissenschaftler und Vertreter aus Gesellschaft und Wirtschaft Empfehlungen zur Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland erarbeiten sollen. Doch die Beteiligungsformen haben vielfach noch Alibi-Charakter und dienen mehr der Akzeptanzbeschaffung als dass sie die Zivilgesellschaft ernsthaft stärken. Vielmehr muss zivilgesellschaftliche Beteiligung fester Bestandteil einer – transdisziplinären – Wissenschaft werden, so dass das vor Ort vorhandene Praxiswissen direkt in Forschungsprojekte einfließen kann und die gewonnen Erkenntnisse gesellschaftlich relevanter und robuster werden.

Damit zivilgesellschaftliche Organisationen einen dauerhaften und konstruktiven Beitrag zur verbesserten Ausrichtung des Wissenschaftssystems auf nachhaltige Entwicklung leisten können, sind dringend mehr finanzielle Ressourcen erforderlich. Diese können nicht von den zivilgesellschaftlichen Organisationen alleine aufgebracht werden. Das Capacity Building für diese gesellschaftlich wichtige Aufgabe erfordert staatliche Unterstützung. Die Verbände müssen sich innerhalb ihrer Organisationen stärker personell und inhaltlich für Wissenschaft und Wissenschaftspolitik fit machen können. Der BUND und die zivilgesellschaftliche Plattform „Forschungswende“ fordern zudem auch weiterhin von der (kommenden) Bundesregierung einen zivilgesellschaftlichen Forschungsfonds von mindestens einer Milliarde Euro. Was mit diesen Mitteln erforscht werden soll, darüber müssen zivilgesellschaftliche Organisationen selbst entscheiden können. So werden sie in die Lage versetzt, ein Gegengewicht zum tradierten Wissenschaftsbetrieb zu setzen. Notwendig ist in Zukunft auch eine wesentlich aktivere Rolle des Parlaments. Zu Vieles entzieht sich der parlamentarischen Mitwirkung und wird der Exekutive und einer Expertokratie aus Wissenschaftsmanagern und Industrieinteressen überlassen.

Viele Akteure in unserer Gesellschaft tragen Verantwortung dafür, die freie und nachhaltige Wissenschaft zu stärken. Wie wäre es, wenn wir alle gemeinsam einen „March of Sustainable Sciences“ organisieren: der BUND ist auf jeden Fall mit dabei.

Prof. Dr. Hubert Weiger

Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)
Beiratsmitglied in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V.

Prof. Dr. Hubert Weiger
Prof. Dr. Hubert Weiger
Hubert Weiger, Jahrgang 1947, ist Honorarprofessor an der Universität Kassel und Vorsitzender des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND). Er studierte Forstwirtschaft in München und Zürich, und promovierte über forsthydrologische und bodenkundliche Auswirkung von Stickstoffeinträgen in Waldökosysteme mit summa cum laude an der Universität München. Als Hochschullehrer ist er seit 1987 an der Universität Kassel tätig, von 2002 bis 2011 als Dozent ebenfalls an der Technischen Universität München. Er ist Gründungsmitglied des BUNDs und war von 1975 bis 2008 Mitglied dessen wissenschaftlichen Beirats. Er ist Mitglied in zahlreichen weiteren Institutionen, u.a. im Rat für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung sowie in der Stiftung Ökologie und Landbau. Für seine Verdienste wurde Professor Weiger 2009 mit der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber und 2010 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.