*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Zum dreihundertsten Geburtstag von Immanuel Kant

Noch heute gehen wir in unseren roten Talaren der Medizinischen Fakultät (nachdem der Muff unter den Talaren nach 1968 etwas ausgelüftet worden war) bei Universitätsumzügen ganz an der Spitze – zusammen mit der theologischen und der juristischen Fakultät. Erst hinter uns folgen nach wie vor all die Fakultäten, die sich aus der einst niederen Fakultät, der philosophischen, mit ihren natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern entwickelten. Es gab noch lange nach Kant die Unterscheidung von menschlich empirischem und gottbegnadet theoretischem Wissen. Wie man in Kants ausgesprochen witziger Schrift „Über den Streit der Fakultäten“ (Kant 1995, S. 5-140) nachlesen kann, beruhten die höheren Fakultäten, die zu den Berufen des Priesters/Pfarrers, des Arztes und des Juristen führten, auf den Offenbarungen Gottes oder der von Gott eingesetzten weltlichen Herren, während die niedere Fakultät, die „philosophische“, auf menschlicher Empirie, Indizienbeweisen (englisch: „Evidence“) und Räsonnement basierte. Privilegierten Zugang zum göttlichen Wissen vermittelten theologische Priesterweihen, die Erkenntniszugänge der Priester und später etwas eingeschränkt der Pfarrer waren definitiv von denen der Laien unterschieden. Privilegierten Zugang zum göttlich begnadeten Wissen des Landesherren vermittelte die Berufung durch ihn in die juristische Fakultät oder ins Richteramt. Für die theologische und die juristische Fakultät galt, Du glaubst, was Dein Chef sagt (wie man „cuius regio, eius religio“ nicht allzu frei übersetzen könnte). Kant bemüht sich, die niedere Fakultät möglichst frei von Ansprüchen der höheren Fakultäten zu halten. In der niederen philosophischen Fakultät sollte allein menschliche Vernunft gelten. Akademische Weihen sollten keine Priesterweihen sein. Das sah Kant wie damals jedermann ganz deutlich: „Daher schöpft der biblische Theolog (als zur obern Facultät gehörig) seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht, der Arzneigelehrte seine ins Publicum gehende Heilmethode nicht aus der Physik des menschlichen Körpers, sondern aus der Medicinalordnung…. Daher müssen die oberen Facultäten am meisten darauf bedacht sein, sich mit der unteren ja nicht in Mißheirat einzulassen, sondern sie fein weit von sich abzuhalten, damit das Ansehen ihrer Statute nicht durch die freien Vernünfteleien der letzteren Abbruch leide“ (Kant 1995, S. 27f, Randnote 23, fette Hervorhebungen vom Verfasser jb). Um diese Autonomie der niederen philosophischen Fakultät zu erhalten, ist Kant zu weitgehenden Kompromissen bereit, um Überschneidungen zu regeln. Eine offensichtliche Überschneidung ist, dass die offenbarten Heiligen Schriften und Gesetzesbücher eben auch Texte sind. Und als Texte sind sie für philologisch-historische, also für logisch-menschliche Auslegung geeignet, wie sie neben den empirischen Naturwissenschaften die niedere Fakultät betreibt. Kants Abgrenzungskompromiss ist, dass Pfarrer und Juristen, die sich bei der Textinterpretation menschlicher Philologie bedienen, ihre philologischen Interpretationen keinesfalls von der Kanzel oder im Gerichtssaal vortragen. Von der Kanzel und im Gerichtssaal soll Wissen tendenziell nur als göttlich oder durch die von Gott begnadete Obrigkeit offenbartes Wissen verkündet werden. Nur so ist zu vermeiden, dass die niedere Fakultät mit den höheren Fakultäten in Konflikt gerät und darüber einen Eingriff der Obrigkeit in ihre Autonomie provoziert. Am schwersten fällt Kant diese Abgrenzung bei der Medizin. Denn die Medizin gehörte traditionell zu den höheren Fakultäten. Gleichzeitig beruhen aber ihre Methoden zum erheblichen Teil auf empirischer Naturbeobachtung der niedrigen philosophischen Fakultät und nicht nur auf obrigkeitlicher Offenbarung der „Medicinalordnung“. Hier sucht Kant einen Formelkompromiss. Er behauptet, die von Gott begnadete Obrigkeit habe nur ein Interesse an der ‚medizinischen Polizey‘. Details, mit der sich die empirische Naturbeobachtung der philosophischen Fakultät befasse, kümmerten die Obrigkeit angeblich gar nicht (Kant 1995, Vierter Abschnitt, S. 39-43, warnend die Fußnote S. 42, und viele weitere Stellen in der gesamten Schrift).

Inzwischen hat sich die Medizin längst stolz auf die „Mißheirat eingelassen“, hat sich einiger ihrer obrigkeitlich offenbarten Wissensanteile entledigt und fühlt sich im Bett der empirisch forschenden, an evidenten Beweisen orientierten, niederen Fakultät durchaus richtig aufgehoben. Forschende Ärztinnen und Ärzte erwerben in den angelsächsischen Ländern den Ph.D., den philosophischen Doktor, der alte M.D. bezeichnet fast nur noch ein beruflich nötiges Wissen und eher geringe anspruchsvolle empirische Forschung. Man kann auch sagen, die niedere Fakultät ist aufgestiegen (nur noch nicht in der Reihenfolge der Fakultäten bei Universitätsumzügen).

Aber dadurch wirft die Medizinische Fakultät die Frage auf, ist sie überhaupt noch eine eigenständige Fakultät – oder vielmehr eine Anwendung der naturwissenschaftlichen Fächer Biologie und Physik sowie der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer Soziologie, Psychologie, Mathematik, Ethik usw.? Selbst in der Max-Planck-Gesellschaft wurde hier und da nicht nur in den Sitzungspausen erörtert, was Ärztinnen und Ärzte eigentlich mehr zur Grundlagenforschung befähige als alle ihre natur- und sozialwissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Meiner Ansicht nach hat die Medizinische Fakultät (bzw. um der Gesamtheit der therapeutischen, ärztlichen und pflegerischen Professionen gerecht zu werden, die „Faculty for Health Sciences“) einen spezifischen Gegenstand, den die Natur- und Sozialwissenschaften nicht haben und in dem sie Grundlagenforschung betreibt: Ihr Gegenstand ist die zukunftsunsichere, aber vernünftig zu begründende, innovative Krisenentscheidung im jeweils individuellen Fall gemeinsam mit einer einzigartigen natürlichen oder juristischen Person – unter Handlungsdruck und Begründungszwang. Dabei spiegelt der Handlungsdruck und der Begründungszwang der therapeutischen, pflegerischen oder ärztlichen Profession nur den Handlungsdruck und den Begründungszwang, den das tatsächlich entscheidende Individuum gegenüber sich selbst, seinen Nächsten (Partnern, Kindern, Enkeln, Arbeitskollegen, Freunden usw.) zu leisten hat und ihn nicht selten dazu veranlasst, eine angeratene Behandlung abzulehnen und auf sie zu verzichten. Die letzte Entscheidung liegt in der evidenzbasierten professionellen Praxis immer allein bei der Person des Patienten, nie bei der Profession (vgl. Behrens 2019). Kein Biologe, kein Chemiker hat dieses Handlungsproblem, einem Individuum – auch einem einzelnen Tier oder sogar einer einzelnen Pflanze (siehe schon vor 150 bzw. knapp 100 Jahren die Begründer der chemisch-biologischen Umwelt-Systemtheorie Pierce 2009 und Uexküll 1973) – eine Entscheidung zu empfehlen, die dieses einzelne Tier oder auch die Pflanze für sich selbst im Aufbau ihrer „internen Evidence“ treffen kann und zu treffen hat – bevor das einzelne Tier dann die Biologen oder Chemiker mit der Ausführung ihrer Entscheidung beauftragt.

Hier ist zweifellos handlungswissenschaftliche Grundlagenforschung zum Aufbau „interner Evidence“ (in der englischen Bedeutung von Indizienbeweis, siehe Ginzburg 1983)- unter Nutzung aller „externen Evidence“ aus Häufigkeitsstudien – nötig. Diese herausfordernde Praxis als „Kunst“ statt als Handlungswissenschaft zu bezeichnen, wie das Gross und Löffler (1997, S. 8) andeuten, würde diese Praxis als „vernünftige Praxis“ undiskutierbar, unkritisierbar und tendenziell unerforschbar machen (Behrens 2019, Behrens und Langer 2004, Carnap 1966, Raspe 2015).

Wegen dieses grundlegenden Handlungsproblems ist die „Faculty for Health Sciences“ eine eigenständige Fakultät, die sich von all den natur- und sozialwissenschaftlichen Fächern deutlich unterscheidet, die dieses Handlungsproblem nicht haben. Sie bedient sich zur Lösung ihres Handlungsproblems der externen „Evidence“ aller Studien (meist Häufigkeitsverteilungen) aller Fächer, mit denen sie in einem Bett liegt, aber hilft zusätzlich der individuellen Person dabei, ihre „interne Evidence“ aufzubauen, die aus keiner externen Evidence allein abzuleiten ist. Kümmerte die Faculty for Health Sciences sich nicht um dieses grundlegende Problem, wäre es in der Tat unverständlich, warum ihre Professorinnen und Professoren nicht nach ihrer persönlichen Eignung und Neigung auf die natur- und sozialwissenschaftlichen Fächer verteilt würden, die aus der alten niederen philosophischen Fakultät entstanden.

Mit ihrer Forschung zu ihrem spezifischen Handlungsproblem leistet die Faculty for Health Sciences auch hilfreiche Beiträge für jene Absolventinnen und Absolventen der ziemlich kontemplativen Natur- und Sozialwissenschaften, die sich dafür entscheiden, beruflich in die Beratung höchst individueller natürlicher oder juristischer Personen zu wechseln. Da hat die Faculty for Health Sciences eine lange Erfahrung beizusteuern.

Die traditionsreiche Vereinigung deutscher Wissenschaftler sieht die Verantwortung der Wissenschaft (VdW) auch und gerade darin, in jeder Beratung nie aus der „externen Evidence“ von Häufigkeitsstudien auf den Einzelfall der beratenen natürlichen oder juristischen Person zu schließen: Immer setzt eine Beratung voraus, dass die beratene natürliche oder juristische Person ihre eigene „interne Evidence“ ihrer persönlichen Ziele, ihrer Wahrnehmungen und ihrer Ressourcen aufbaut, aus der heraus sich erst ihre persönlichen Fragen an die Professionen der Wissenschaft entwickeln. Dabei kann ihr „externe Evidence“ manche Anregung geben.

Der Verfasser dankt dem Direktor a.D. des Max-Planck-Institutes für Meteorologie Hamburg, dem Vorsitzenden a.D. der Vereinigung deutscher Wissenschaftler und deren jetzigem Beiratsvorsitzenden Hartmut Graßl für klärende Rückfragen ganz in seinem Sinne.

Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. phil. (habil.) Johann Behrens, Medizinische Fakultät der Universität Halle-Wittenberg, johann.behrens@medizin.uni-halle.de

Literatur:

Behrens J 2019, Theorie der Pflege und der Therapie, Bern, Göttingen, Oxford: Hogrefe
Behrens J & Langer G 2004, Evidence based Nursing, Bern: Huber
Carnap R 1966, An introduction to the philosophy of science, New York: Basis Books
Ginzburg C 1983, Spurensicherung, Berlin: Wagenbach
Gross R & Löffler M 1997, Prinzipien der Medizin. Eine Übersicht ihrer Grundlagen und Methoden, Berlin Heidelberg: Springer
Kant I 1995, Der Streit der Facultäten, Werke Band 6, Köln: Könemann
Pierce C S 2009, The Logic of Interdisciplinarity, Berlin: Akademie-Verlag
Raspe H 2015, „Der Nächste bitte“ – Anmerkungen zur Indikationsstellung in der klinischen Medizin. Z Evid Fortbild Qual Gesundwes 109 (1) 46-50
Uexküll J v 1973, Theoretische Biologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Prof. Dr. Johann Behrens
Prof. Dr. Johann Behrens
Nach dem Abitur im nordhessischen Steinatal und frühen Jahren als Rettungssanitäter, Kindergärtner und Fernsehjournalist beim HR studierte Johann Behrens Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Sozialmedizin und Pflegewissenschaften in Frankfurt a. M., Heidelberg und Detroit. Er wurde Diplom-Soziologe, Dr. phil. und Assistent in Frankfurt a. M. und bildete sich als Gastprofessor in Institutionsanalyse und Sozialpsychologie am Kurt Lewin Center der UofM , Ann Arbor fort. Seine Habilitationsäquivalenz in Therapie-, Pflege- und Gesundheitswissenschaften wurde von der Universität Bremen festgestellt. Darüberhinaus habilitierte er in Sozialökonomie (Bochum). Behrens diente dem DFG-Sonderforschungsbereich 3 (Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik, Frankfurt und Mannheim) als Kooperand sowie als Antragsteller, Projektleiter und Vorstand, teilweise als Sprecher, dem Zentrum für Sozialpolitik (Bremen), dem DFG-SFB 186 (Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf, Bremen 1988-2000), dem DFG-SFB 580 (Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch, Halle und Jena, 2000-2012), den BMBF-Verbünden ‚Demographischer Wandel und Zukunft der Arbeit‘ sowie „Evidencebasierte Pflege chronisch Kranker und Pflegebedürftiger in kommunikativ schwierigen Situationen‘. Das Nationale Zentrum für Frühe Hilfen gründete er als berufenes Mitglied des Gründungsbeirats mit. 1998 gründete Behrens mit Kolleginnen und Kollegen das erste Center for Evidence based Nursing auf dem eurasischen Festland. 1999 wurde er in Halle-Wittenberg Gründungsdirektor des ersten Institutes für Gesundheits- einschließlich Therapie- und Pflegewissenschaften an einer deutschsprachigen öffentlichen Medizinischen Fakultät. Sein Publikationsschwerpunkte sind außer Pflege, Therapie und Arbeitsmarktpolitik vor allem historisch anthropologische Erkenntnis-, Entscheidungs- und Handlungstheoie. Er hat Professuren und Gastprofessuren u. a. in Ann Arbor (UofMichigan), Fulda, Halle-Wittenberg, Innsbruck, Kassel, Gmünd, Toronto und Hamilton (McMaster), Bochum, Luxemburg, St. Gallen. Zusätzlich lehrt er im Halleschen Graduiertenkolleg und Promotionsstudiengang „Selbstbestimmte Teilhabe als Ziel von Pflege und Therapie“. Behrens war langjähriger Vorstand der Dekanekonferenz Pflegewissenschaft und Member oft the Board der Commission for Evaluation der ICOH/WHO und ist seit 1982 gewählter Vorstand des Frankfurter ‚Instituts für Supervision, Institutionsanalyse und Sozialforschung‘ sowie im VDW Sprecher der SG „Gesundheit als selbstbestimmte Teilhabe“ und im Beirat.