*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.
In einer Pandemie hat Wissenschaft das Wort, wie man jetzt nahezu pausenlos in allen Medien erleben kann. Leider kommt es dabei zu massiven Missverständnissen, beruhend vor allem auf einer ungenügenden Differenzierung zwischen Wissenschaftszweigen und der Unterscheidung des Wahrheitsbegriffes in Naturwissenschaften und Philosophie. In Zeiten einer Pandemie wird das Bild der Wissenschaft von Epidemiologen bestimmt. Epidemiologie ist eine Wissenschaft, in der man notwendigerweise auf Statistiken angewiesen ist, und in der Experimente ausgeschlossen sind; sie kann in einer aktuellen Situation tatsächlich immer zu nur vorläufig richtigen Aussagen kommen. Fatalerweise dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung heute zunehmend der Schluss, dass Wissenschaft immer nur zu vorläufigen Resultaten führt. Solche Verallgemeinerungen werden nicht nur allzu gern als alternative facts von den sogenannten Querdenkern aufgegriffen, aber auch von Politikern wie Wolfgang Kubicki, welche in jeder Talkshow wiederholen, man könne auf Virologen nichts geben, die jede Woche zu anderen Schlüssen kämen. Weit bedenklicher ist, dass absolut unverdächtige Journalisten wie Jakob Augstein oder auch Heribert Prantl, beide sicher keine Gegner der Aufklärung, aus den sich notwendig verändernden Schlüssen von Epidemiologen auf eine generelle “Wahrheitskrise” in der Wissenschaft schließen. Der Virologe Hendrik Streeck leistet dem Vorschub, wenn auch er davon spricht, dass es ganz viele Wahrheiten gibt.
Seit Jahrhunderten bemühen sich Forscher in den nicht umsonst exakt genannten Wissenschaften um beweisbare Fakten. Althergebrachte Weisheiten, beginnend mit Sokrates “Ich weiß, dass ich nichts weiß”, haben mit dem Wissenschaftsverständnis – jedenfalls eines Naturwissenschaftlers – wenig zu tun. Im öffentlichen Diskurs verbreitet sich neuerdings ein grundsätzlicher Zweifel an der Wissenschaft, als ob das Hebelgesetz, die Maxwellschen Gleichungen, die Mendelschen Gesetze, das Periodensystem der Elemente, Bau und Funktion der DNA, die Entstehung von Diabetes, oder der Zusammenhang von CO2-Konzentration und Erderwärmung nur vorläufige Erkenntnisse darstellen, welche ständig hinterfragt werden müssen. Welche unheilvollen Auswirkungen die populär gewordene Relativierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nach sich zieht, zeigt sich etwa in einer Diskussion von Josef Augstein mit der Fridays-For-Future-Aktivistin Line Niedeggen in einer Fernsehdokumentation vom 31.10.2020 [1]. Augstein vergleicht die Rolle der Wissenschaft im Kampf gegen Corona mit dem gegen die Klimakatastrophe; er spricht davon, wie volatil Wissenschaft sei und hält die Forderung “Unite behind Science” für “total falsch”. Dagegen hält Line Niedeggen daran fest, dass der Bedeutungszuwachs der Wissenschaft im öffentlichen Diskurs doch Auswirkungen auf den Kampf gegen den Klimawandel hat. Augstein, auch Prantl und Niedeggen heben mit Recht darauf ab, dass es natürlich vor allem darauf ankommt, dass die Politik aus den Resultaten der Wissenschaft die richtigen Konsequenzen zieht – das gilt für den Kampf gegen Corona ebenso wie gegen die Klimakatastrophe.
Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Naturwissenschaften müssen die Entscheidungsprozesse zwischen richtig und falsch innerhalb ihrer Disziplinen einer breiten Öffentlichkeit verständlicher gemacht werden. Dazu können Organisationen wie die VDW oder die Initiative „Wissenschaft im Dialog“ [2] wesentlich beitragen. Nur auf diese Weise kann der Missbrauch von Wissenschaft in der Politik eingeschränkt werden – die letzten vier Jahre der US-amerikanischen Politik zeigen die verheerenden Folgen eines Missbrauchs der Wissenschaft. Auch in den exakten Naturwissenschaften kommt es zu eindeutig richtigen Aussagen erst dann, wenn sich aus Beobachtungen und Experimenten unstrittige Schlüsse ergeben. In vielen medizinischen oder auch sozialwissenschaftlichen Disziplinen lässt sich dies durch übereinstimmende Meinungsbildung auf einer breiten Grundlage erreichen. Die Coronakrise hat uns ebenso wie der Klimawandel bewusst gemacht, wie tiefgreifend die Natur unser Leben bestimmt. Nur wenn wir ihre Wirkungsweisen verstehen, können wir einen menschengerechten Umgang mit ihr erreichen.
Es geht darum, einer sich immer mehr ausbreitenden Wissenschaftsskepsis wirksam zu begegnen. Schon in früheren Jahrhunderten haben Krisen- und Notzeiten Menschen dazu gebracht, ihr Heil in irrationalen Auswegen zu suchen. Anders als in Finanzkrisen wie 2008/2009 fühlt sich in Coronazeiten jeder Mensch persönlich durch ein in seiner Wirkungs- und Ausbreitungsweise schwer verständliches Virus bedroht und sucht oft Zuflucht in Denkweisen, welche ihnen die Mühe wissenschaftlicher Einsichten und Behandlungswege erspart. In diesen Zeiten müssen Wissenschaftler mehr denn je dazu beitragen, dem entgegenzuwirken, und den Elfenbeinturm verlassen. Deutschland möchte den Ruf einer Wissensnation behalten; dem müssen wir versuchen gerecht zu werden.