Hamburger Manifest der VDW
veröffentlicht zum Symposium „Von den Alpen bis zum Watt“
anlässlich des 85. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hartmut Graßl
Hamburg, den 25. September 2025
Wir leben in einer zunehmend polarisierten Welt, in der die Grundlagen des Lebens auf unserem Planeten und die Zukunft nachfolgender Generationen durch ständige Krisen, ungelöste geopolitische Konflikte und aktuelle Kriege sowie durch nukleare Bedrohungen, Klimawandel, Umweltdegradation, Biodiversitätsverluste und Pandemien massiv bedroht sind. Um diese Herausforderungen zu bestehen, müssen wissenschaftliche Erkenntnisse anerkannt, die Freiheit von Wissenschaft hochgehalten und verantwortungsvolle wissenschaftliche Forschung fortgeführt werden. Der vielfach eingeschlagene Weg der Konfrontation, Ignoranz und Aufrüstung gefährdet nicht nur den Weltfrieden, sondern ist ein Angriff auf das internationale Völkerrecht, die Demokratie offener Gesellschaften und auf das Verhältnis von Mensch und Natur. Globale Probleme können nur gemeinsam gelöst werden, indem wir miteinander sprechen, einander zuhören und im Dialog ernsthaft nach Lösungen suchen.
1. Das Leben auf unserem Planeten und die Wissenschaft sind durch die aktuellen Krisen direkt betroffen
Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat gelernt, sachlich international zusammenzuarbeiten, selbstkritisch gegenüber Vorurteilen und Emotionen. Sie trägt in wissenschaftlichen Institutionen und zahlreichen Projekten zur Sicherung des Lebens, zum Beispiel der Biodiversität, bei. In einigen Ländern ist dieser unverzichtbare Beitrag aktuell unter massiven Druck geraten: Wissenschaftlich relevante Behörden werden abgeschafft, wissenschaftliches Personal wird entlassen, missliebige Forschungsprogramme werden unterbrochen, Forschungs- und Hochschulbudgets werden gekürzt und wichtige Forschungsdaten gelöscht. Universitäten soll vorgeschrieben werden, was sie forschen und lehren sollen. Ausländischen Studierenden wird die Einreise verweigert. Die Freiheit der Forschung und Lehre sowie der Rechtsstaat werden beschädigt.
Dieser Trend hat zum Ziel, das Potenzial der Wissenschaft, d. h. Wege aus Gefahren zu finden und Lösungen vorzuschlagen, zu blockieren. Wissenschaftsfeindlichkeit wird zum Programm, globale Risiken sollen durch die Schließung der „gesellschaftlichen Wächterfunktion“ zum Verschwinden gebracht werden. Besonders ins Zentrum der Unterdrückung gerückt werden Bereiche wie Forschung zur öffentlichen Gesundheit, die Nachhaltigkeitsforschung als Basis einer Politik des gesellschaftlichen Wandels oder die Rüstungskontrollforschung als Basis stabiler internationaler Sicherheit.
Es ist zu befürchten, dass sich dieser Trend auf internationale Kooperationen auswirkt und auch Deutschland verstärkt erfasst. Angesichts geopolitischer Konflikte werden in Deutschland z. B. Stimmen laut, die fordern, dass Universitäten und große Forschungsinstitutionen verstärkt militärische Forschung für Rüstungszwecke betreiben sollten. Der Dual-Use-Begriff solle aufgegeben und Zivilklauseln sollten abgeschafft werden. Damit kein Zweifel besteht: Rüstungsforschung ist legitim. Sie ist aber auch an das Grundgesetz (insbesondere Art.26) und internationale Verpflichtungen gebunden. Eine offene Wissenschaft ist nicht vereinbar mit Geheimhaltung von und beschränktem Zugang zu erhobenen und veröffentlichten Daten. Hinzu kommt, dass internationale Kooperationen und Wissenschaftsdiplomatie eingeschränkt werden. Wissenschaftliche Institutionen sind von staatlichen Geldern abhängig und es besteht die Gefahr, dass angesichts neuer Feindbilder internationale Projekte und Kontakte abgebrochen oder blockiert werden. Viele Fragen der Wissenschaft sind aber nur international lösbar und basieren auf gemeinsamer Forschung und Dialog. Dabei geht es nicht nur um Problemlösungen, sondern auch um die Bewahrung von Wissenschaftsprinzipien wie Universalität, Objektivität, Integrität und Transparenz.
Die Menschheit steht vor mindestens drei globalen Gefahren, die ihre wissenschafts- und technologiebasierte Zivilisation existenziell bedrohen – wenn auch auf unterschiedlichen Zeitskalen: der Destruktion der Biodiversität, dem menschgemachten Klimawandel und der nuklearen Bedrohung. Diese globalen Gefahren dürfen nicht marginalisiert oder verdrängt werden.
Die im Vergleich zu natürlichen Änderungen rasante globale Erwärmung der Erdoberfläche, verursacht durch den erhöhten Treibhauseffekt der Atmosphäre, zerstört bereits heute die Lebensgrundlagen hunderter Millionen von Menschen, vor allem auf der Südhalbkugel, und damit derjenigen, die kaum zur Erwärmung beigetragen haben. Obwohl ein völkerrechtlich bindender Vertrag wie das Paris-Abkommen zur Begrenzung der globalen Erwärmung existiert, wird dessen bisher zögerliche politische Umsetzung immer mehr Menschen in den tropischen und subtropischen Regionen zur Migration zwingen sowie viele weitere Arten und Ökosysteme gefährden. Aber auch bei erfolgreichem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe in den kommenden Jahrzehnten werden neue Wetterextreme gehäuft auftreten, der Meeresspiegelanstieg wird über Jahrhunderte weitergehen und alle Küstenregionen massiv bedrohen. Eine Pause beim Klimaschutz, insbesondere bei den Hauptemittenten von Treibhausgasen, gefährdet das Leben von vielen Millionen Menschen.
Der Biodiversitätsverlust ist, obwohl in der Öffentlichkeit weniger thematisiert, eine nicht minder große existenzielle Gefährdung der Menschheit. Der drohende Verlust von mehr als einer Million Tier- und Pflanzenarten ist irreversibel. Wir sind als Menschen daher direkt oder indirekt existenziell betroffen, da dadurch unsere Lebensgrundlagen wie Nahrung, Wasser und Luft gefährdet sind. Der bisher nicht gebremste Verlust an Böden durch Überbauung oder durch Degradation verstärkt diese Krise noch.
Gleichzeitig erleben wir neue Aufrüstungsrunden und ein Wiederaufleben nuklearen Wettrüstens zwischen den führenden Mächten. Die Bewaffnung des Weltraums wird forciert. Es gibt ein erheblich gesteigertes Risiko, dass Atomwaffen entweder versehentlich oder vorsätzlich eingesetzt werden. Ein nuklearer Krieg kann in wenigen Stunden die Auslöschung der modernen Zivilisation herbeiführen. Die Gefahr, dass auch ein konventioneller Krieg in einer nuklearen Katastrophe unter der Beteiligung der Atommächte endet, ist gegeben. Die neuen Militärrüstungen kosten viele Ressourcen, die bereits jetzt an anderer Stelle fehlen. In Rüstungskontrollgespräche wird nicht mehr investiert und diplomatische Vorschläge zur Lösung der akuten Konflikte mit großem Eskalationspotenzial sind Mangelware. Die Wissenschaft darf sich nicht an diesem kostspieligen und gefährlichen Konfrontationskurs beteiligen, sondern muss ihre völkerverständigende Rolle beibehalten und stärken.
2. Aufgabe der Wissenschaft: Verantwortung übernehmen
Das Gründungsmitglied der VDW Carl-Friedrich von Weizsäcker bemerkte einst: „Die erste Verantwortung des Wissenschaftlers ist es, die Verflechtung von Erkenntnis und Weltveränderung zu erkennen.“ Dieses Prinzip bleibt hochaktuell. Die Freiheit und Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Denkens sowie die Fortsetzung ideologiefreier Dialoge, vor allem über Grenzen der Nationalstaaten hinweg, sind essenziell, um zur Lösung komplexer Konflikte und wissenschaftserzeugter Probleme der Zukunft beizutragen.
Die wissenschaftliche Gemeinschaft als Ganze sowie auch die Wissenschaftler:innen als Individuen selbst tragen eine besondere Verantwortung. Sie müssen schädliche Entwicklungen und Risiken frühzeitig erkennen, ihre Auswirkungen auf das Leben, die Gesundheit und die Menschenwürde sichtbar machen, internationale Aufmerksamkeit dafür schaffen und Wege aufzeigen, akute Gefahren zu minimieren oder abzuwenden. Dies gilt insbesondere auch da, wo neue Technologien wie aktuell die Künstliche Intelligenz, Cyber-, Bio- oder die Quantentechnologien weiterentwickelt werden, also die Wissenschaft selbst involviert und kritische Reflexion besonders nötig ist. Institutionen, die eine verantwortungsvolle Technologie- und Wissenschaftsfolgenbetrachtung leisten, bleiben daher ebenso notwendig wie die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben.
Darüber hinaus müssen wir selbstkritisch anerkennen, dass auch innerhalb der Wissenschaft Fehlentwicklungen auftreten: wenn Forschende sich einseitig von Lobbyinteressen leiten lassen, wenn Auftragsforschung politische und ökonomische Agenden stützt und wenn Transparenz und Integrität zugunsten kurzfristiger Vorteile geopfert werden. Solche Tendenzen schwächen die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und untergraben das Potenzial, zur Lösung globaler Krisen beizutragen.
Wissenschaftler:innen haben darüber hinaus häufig nicht das Interesse und, von sich aus, nicht die erforderlichen Kenntnisse, um längerfristige Entwicklungen allein einschätzen zu können. Sie sind dessen ungeachtet gefordert, sich mit der Sicherheits- und Friedensrelevanz ihrer Arbeiten auseinanderzusetzen. Die VDW bietet eine Plattform, um komplexe Fragen und globale Herausforderungen über Fachgrenzen hinweg zu erkennen, sie verantwortungsvoll zu diskutieren, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und institutionelle Erfordernisse der Wissenschaft im Hinblick auf diese Aufgaben zu reflektieren.
3. Welche Hilfen konkret anbieten?
Es geht weiterhin darum, die Freiheit der Wissenschaft verantwortungsvoll zu sichern, die Klimaresilienz und -gerechtigkeit zu stärken sowie mittels Diplomatie dazu beizutragen, internationale Konflikte zu lösen und Frieden, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie Vertrauensbildung möglich zu machen. Daran muss sich auch die Wissenschaft verstärkt beteiligen, indem sie neue Brücken baut und internationale Kooperationen stärkt.
Die Freiheit der Wissenschaft ist in Deutschland verfassungsrechtlich verankert. Ihre Zukunft hängt aber davon ab, dass einzelne Forschende aufgrund ihres Wissens, ihrer Methoden und ihrer Unabhängigkeit ihre besondere Verantwortung über die gesetzlichen Verpflichtungen hinaus wahrnehmen. Wissenschaftler:innen müssen nicht nur die gesetzlichen Verpflichtungen (wie z. B. Grundgesetz, Exportkontrolle oder internationale Verträge) kennen, sondern auch aufgrund der Wirkmächtigkeit ihrer Arbeit und Erkenntnisse Risiken abschätzen können.
Nötig ist eine stärkere Bewusstseinsbildung unter Einbeziehung nicht nur der universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, sondern auch von Wirtschaft und Industrie, insbesondere bei technologischen Entwicklungen und Anwendungen. Mehr Wissenschaftsdiplomatie ist international ebenso erforderlich wie auch mehr individuelle Verantwortung bezüglich internationaler Diskurse und Konfliktlagen.
4. Wir schlagen deshalb vor:
- Eine offene Diskussion der Wissenschaft mit der Gesellschaft und die Sicherung einer unabhängigen und freien Wissenschaft und Lehre sowie die Fortführung von internationalen Kooperationen.
- Einen selbstkritischen Dialog innerhalb der Wissenschaften und einen verstärkten Dialog wissenschaftlicher Organisationen und Institutionen mit der Gesellschaft über globale Probleme und mögliche Lösungswege.
- Einen verstärkten Dialog mit den politischen Entscheidungsträger:innen auf Bundes- und Landesebene über sicherheits- und friedensrelevante Forschung.
- Eine systematische Berücksichtigung der miteinander verknüpften globalen Herausforderungen für Forschung und Lehre wie z. B. der menschenverursachten Klimaerwärmung, des Biodiversitätsverlusts und der nuklearen Gefahren.
- Eine kritische Reflexion von Forschung und ein wissenschaftliches Denken, das die gesellschaftlichen Folgen von Wissenschaft miteinbezieht, auch gerade in Lehre und Forschung.
- Eine klare Abgrenzung gegenüber wissenschaftlichem Lobbyismus und damit einhergehenden Interessenkonflikten und eine Stärkung von Transparenz und Integrität.
Erstunterzeichner:innen:
Prof. Dr. Götz Neuneck, Vorstandsvorsitzender VDW
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ernst Pöppel, Vorstandsmitglied VDW
Prof. Dr. disc. pol. Alexandra Retkowski, Vorstandsmitglied VDW
RA Dr. Klaus Schmid, Vorstandsmitglied VDW
Prof. Dr. Hubert Weiger, Vorstandsmitglied VDW
Prof. Dr. Dr. hc. mult. Hartmut Graßl, Beiratsvorsitzender VDW
Dr. rer. pol. Jochen Luhmann, Beiratsvorsitzender VDW
Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, ehem. VDW-Vorsitzender
Weitere Unterzeichner:innen:
Jana Albinus
Dr. Stephan Bakan
Prof. Dr. phil. (habil) Johann Behrens, VDW-Beirat
Prof. Dr. Claudia Bieling
Prof. Dr. Michael Brzoska
Dr. Michael Buijzen
Bundesministerin a. D. Edelgard Bulmahn
Prof. Dr. Ottmar Edenhofer
Arved Fuchs
Harry Funk
Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald
Prof. Dr. Peter Hennicke
Prof. (i. R.) Dr. Jürgen Heß
Prof. Dr. Daniela Jacob
Prof. Dr. Ulrike Jordan
Dr. Christian Klepp
Prof. Dr. Gerhard Kreutz
Prof. (i. R.) Dr. Christine Lacher
Prof. Dr. Mojib Latif
Dr. Jasmin S. A. Link
Dr. Peter Michael Link
Dr.-Ing. Peter Markus
Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin, VDW-Beirat
Prof. Elke Pahl-Weber
Helena Peltonen-Gassmann
Dr. med. Theodor Dierk Petzold
Dr. Diana Rechid
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ortwin Renn
Prof. Dr. rer.soc Wolfgang Sachs
Susanne Schacht
Prof. Dr. Jürgen Scheffran, VDW-Beirat
Horst Schröder
Prof. Dr. (rer.oec) Eberhard K. Seifert, VDW-Beirat
Univ.-Prof. (i. R.) Dr. Georg Simonis
Dr. Joachim Spangenberg
Rudolf Stork-Viroulaud
Dr. Claas Teichmann
Dipl.-Inf. Alexander von Gernler, VDW-Beirat
Dipl.-Ing. Harald Walsberg
Jörg Warning
Dipl.-Ing. Michael Weitz
Christine von Weizsäcker, VDW-Beirat
Univ.-Prof. (i. R.) Ing. Dr. phil. Dr. h.c. Verena Winiwarter
(Stand: 09. Oktober 2025)