*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.
„Handeln gegen die Naturgesetze kann dauerhaft nicht funktionieren“ Die Deutsche Physikalische Gesellschaft veröffentlicht die umfassende Denkschrift „Erkenntnisse und Perspektiven“, die auch für die Arbeit der VDW sehr relevant ist.
Die Deutsche Physikalische Gesellschaft, die mit 55.000 Mitgliedern eine der größten Physik-Gesellschaften der Welt ist und berühmte Physiker wie Max Planck oder Albert Einstein als Präsidenten an ihrer Spitze hatte, hat eine umfassende Denkschrift mit dem Titel Physik: Erkenntnisse und Perspektiven herausgegeben, die gut gemacht, informativ und auch für die VDW sehr relevant ist.
Ziel war es, eine Standort- und Perspektivenbeschreibung der Physik aus der Sicht der DPG vorzunehmen. Beteiligt waren an dem insgesamt 344-seitigen Kompendium über 200 Physikerinnen und Physiker aus unterschiedlichsten Fachgebieten, die den jeweiligen Stand der Erkenntnisse kurz, reich bebildert und leicht verständlich auf jeweils wenigen Seiten zusammengefasst haben. Beiträge von bekannten Autoren wie Mojib Latif (VDW-Mitglied), Rolf Heuer, Harald Lesch oder Hans Joachim Schellnhuber (VDW-Mitglied) sind hier zu finden. Verglichen mit der Vorgängerversion aus dem Jahr 2000, in welcher den größten Teil die Grundlagenforschung einnahm, ist die neue vielfältiger, interdisziplinärer und vernetzter und damit auch an die heutigen multimedialen Standards angepasst.
Das kostenlos auch Online verfügbare Buch im DIN A4-Format gibt einen umfassenden Einblick in die facettenreiche Welt der Physik – von der Erforschung der kleinsten Teilchen bis zu den Weiten des Universums, von der Wirkung neuer Technologien (KI, Quanten) bis hin zu Bildungs- und Gesellschaftsfragen. Das Buch ist eine kleine Enzyklopädie des aktuellen physikalischen Wissens, bei der sich jeder Leser im Inhaltsverzeichnis die Kapitel und Abschnitte wählen kann, die ihn oder sie besonders interessieren.
Einführungstexte geben kapitelweise einen guten Einblick in Spezialthemen. Viele Texte sind verknüpft mit Abbildungen, Fotos oder Diagrammen. Die Beiträge sind gut lesbar; die Leser brauchen keine umfassende Vorbildung, aber Interesse an der „physikalischen Welt“; Formeln finden sich fast gar nicht. Kästen erklären zentrale Prinzipien (der Physik), Theorien (Standardmodell), Begriffe (Emergenz, Quantenbits) oder komplexe Instrumente (LHC-Beschleuniger, Hubble-Teleskop oder Quantencomputer etc.). Überblicksseiten wie z.B. die Skalen des Mikro- und des Makrokosmos (S. 33/34), das Standardmodell (S. 35-38), Kosmische Objekte (S. 57/58), Biophysik und Skalen (S. 131/132), Diagnose und Therapie (S. 213/214) geben einen inhaltlichen oder zeitlichen Überblick, den man leicht in weiteren Abschnitten vertiefen kann.
Im Folgenden werden einige Themen hervorgehoben, die besonders VDW-relevant sind.
In der Einleitung wird erklärt, was Physik heute eigentlich ist, nämlich interdisziplinär, praktisch, spannend und international. Farblich voneinander getrennt sind die drei Hauptteile „Wissen“, „Wirkung“ und „Menschen“.
Der erste Teil „Wissen“ beinhaltet Einzelbeiträge zum Stand der Physik, (Teilchenphysik, Astrophysik, Quantentechnologie etc.), zum Zustand des Planeten (Geophysik, Atmosphäre, Anthropozän, Kippdynamiken etc.), zu Physik und Leben (Biophysik, Dynamik komplexer Systeme; globale Herausforderungen, Transformation). Hier findet jeder Leser etwas.
„Physik macht unser Leben besser“ ist ein Leitmotiv; aber es wird auch gleich in der Einleitung darauf verwiesen: „Technologien können missbraucht werden. Physik kann der Menschheit Wohlstand und Glück bringen, dieselben Ergebnisse können aber auch zum Schaden bis hin zur Auslöschung der Menschheit eingesetzt werden.“ (S. 2) Im Abschnitt Grundlagen-versus Angewandte Forschung wird nicht nur auf die Verantwortung der Wissenschaft verwiesen, ethische Maßstäbe zu setzen (z.B. bei Genforschung, Quantencomputing und KI), sondern auch auf die „große Verpflichtung, Gesellschaft und Politik immer wieder auf die möglichen Folgen ihrer Erkenntnisse hinzuweisen, das Bewusstsein für mögliche Auswirkungen zu schärfen und sich mit Fachwissen und Fakten in die öffentliche Debatte einzubringen“ (S. 8)
Einige Beiträge sind gut nutzbar, um die Kippdynamik des Erdsystems wie die Klimaentwicklung oder die Ursprünge lebender Systeme besser zu verstehen. Die Denkschrift scheut sich nicht, auch Fragen wie „Gibt es Leben im Universum?“ oder den Kampf gegen das Ozonloch anzugehen. Der Schlussabschnitt des ersten Teils widmet sich der großen Transformation im Bereich der Energietechnik, den erneuerbaren Energien oder dem „Climate Engineering“. Es wird betont, dass die Grundlagenforschung nicht getrennt von ihren Implikationen und Anwendungen zu sehen ist. Dialog- und Kommunikationsbereitschaft sind dafür auf allen Seiten notwendig: „Die Anforderungen der Gesellschaft an die Wissenschaft und umgekehrt die Forderungen der Forschenden nach Realisierungsmöglichkeiten für diese Anforderungen sind immer aufs Neue im Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zu klären und daraus nachhaltige politische Entscheidungen abzuleiten!“ (S. 8). Hoffen wir, dass sich Wissenschaftler:innen und Orte finden, um dies proaktiv und erfolgreich umzusetzen, und dass die Politik überhaupt zuhört.
Physikalische Forschung hat konkrete Folgen, etwa indem neue Technologien entwickelt und hervorgebracht werden, die in vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen Anwendungen finden. Der zweite Teil des Buches „Wirkung“ widmet sich folgerichtig wichtigen Anwendungsfeldern der Physik, im Schwerpunkt also den neuen Technologien. Gleich am Anfang werden anhand einer zweiseitigen Infografik die Sensoren eines Autos, eines Fahrrades und eines Smart-Phones erklärt. Die Schwerpunktabschnitte sind hier die Quantentechnologien, aber auch die Medizintechnik bei Diagnose und Therapie und die Simulation komplexer Systeme. Dem Erdsystem und den globalen Herausforderungen (Transformation, Klimaschutz, Quantencomputing oder KI-Implementierung) wird ein eigenes Unterkapitel gewidmet.
Die DPG betont, sich an gesellschaftlichen Diskussionen zu beteiligen, so etwa beim Klimaschutz, der Bildung, der Energieversorgung oder der nuklearen Bedrohung. Physik wird letztlich von Menschen für Menschen und für die Gesellschaft betrieben. Der dritte Teil „Menschen“ widmet sich daher dem Thema Bildung und Beruf, den kulturellen Leistungen der Physik, dem aktiven Wirken in und für die Gesellschaft und der internationalen Zusammenarbeit. Ein verlinktes Video mit Rolf Heuer (CERN) und Karin Zach (DPG) betont die Offenheit und Kraft der Wissenschaft, um vorurteilsfrei international zusammenarbeiten zu können. In dem Beitrag zu Science Diplomacy werden internationale Großprojekte wie CERN oder LIGO hervorgehoben wie auch die Arbeit der „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“ erwähnt, die zu internationalen Konfliktlösungen beigetragen haben. Das VDW-Mitglied Armin Grunwald hat einen Beitrag zur Technikfolgenabschätzung und Akzeptanz beigesteuert ebenso wie der Autor dieser Zeilen einen Beitrag zur nuklearen Bedrohung und Abrüstung mit dem Titel „Die Büchse der Pandora“. Im Rahmen der „Zeitenwende-Debatte“ wird die verstärkte Einbindung von militärrelevanter Forschung in Universitäten und zivilen Forschungseinrichtungen gefordert. Der Beitrag zu „Disruptiven Technologien“ verweist auf die „Ambivalenz der Forschung“ und plädiert dafür, die klare Trennung von ziviler und militärischer Forschung aufrechtzuerhalten. Eine offene Wissenschaft verträgt sich nicht mit geheim gehaltener Militärforschung: Ulrike Beisiegel, Biochemikerin und ehem. Co-Vorsitzende der VDW, hebt in einem Interview „Ethik in der Forschung“ das Grundrecht der Freiheit der Forschung hervor und plädiert u.a. für eine „europäische Erklärung zum Klimawandel. Sie sieht Gefahren insbesondere beim Geoengineering. Die VDW, ihre Herkunft und Wirkung wird in mehreren Artikeln erwähnt.
DPG-Präsident Joachim Ulrich, der die Denkschrift auf den Weg gebracht hat, bringt es in seinem Geleitwort auf den Punkt: „Schaffen wir gemeinsam Perspektiven aufgrund der Erkenntnis, dass wir ein untrennbarer Teil dieses Organismus (der Erde, GN) sind, dass wir ohne ihn nicht leben können – um unsere Erde, unser Raumschiff im gigantischen Universum, bestmöglich zu schützen. Sie ist die einzige Welt, die wir haben.“
In jedem Fall ist die DPG-Denkschrift ein interessantes und stimulierendes Kompendium, das nicht nur den Stand der physikalischen Erkenntnis gut verständlich zusammenfasst, sondern auch Herausforderungen und Perspektiven aufzeigt. In der Einleitung wird betont: „Der Politik und der Gesellschaft stehen all diese Informationen und Methoden zur Verfügung. Sie sollten sie nutzen, denn eine Politik, ein kollektives Handeln gegen die Naturgesetze kann dauerhaft nicht funktionieren.“ (S.2)
Götz Neuneck, 03. Juli 2025