Vereinigung Deutscher Wissenschaftler

Die Verantwortung der Wissenschaft: Atomwaffen, Klimawandel und Energiesicherheit

2. April 2024

Aus Anlass der erneuten Debatte über eine deutsche oder europäische Atombewaffnung wenden wir uns als Kreis von Menschen aus Wissenschaft und Hochschule in tiefer Sorge an den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung.

Im Jahr 1957 löste die Atomwaffendebatte – wenn auch unter anderen politischen Umständen – eine Krise in der damals noch jungen Bundesrepublik aus, gefolgt von Massenprotesten. Auslöser war die öffentliche Äußerung des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer am 5. April 1957, in der er erklärte: „Die taktischen atomaren Waffen sind im Grunde genommen nichts Anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie und es ist ganz selbstverständlich, dass bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik wir nicht darauf verzichten können, dass unsere Truppen auch die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen…“. Die atomare Bewaffnung der Bundeswehr bzw. der direkte Zugang zu NATO-Atomwaffen wurde ernsthaft in Betracht gezogen.

Wenige Tage nach Adenauers Äußerungen, am 12. April 1957, veröffentlichten 18 hochangesehene Wissenschaftler die „Göttinger Erklärung“, in der sie sich entschieden gegen die Verharmlosung der „zerstörenden Wirkung“ von „taktischen Atomwaffen“ wandten. Die 18 Unterzeichner, darunter die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg, stellten fest: „Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Teile der Bevölkerung vor dieser Gefahr zu schützen“. Sie forderten einen gänzlichen Verzicht auf den Besitz und den Einsatz von Atomwaffen. Dieser Verzicht ist durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 als Grundlage der deutschen Einigung festgeschrieben worden. Er gehört zum politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Das scheint angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden oder verdrängt zu werden.

Auch wenn wir uns bewusst sind, dass sich die heutige politische Ausgangslage verändert hat und nicht mit der damaligen Situation gleichzusetzen ist, sehen wir, die Unterzeichnenden des Briefes, uns dazu aufgerufen, uns zu einer Weiterentwicklung und Verbreitung von Atomwaffen zu äußern. Die „Göttinger Erklärung“ ist für uns kein aus der Zeit gefallenes Bekenntnis zur Verantwortung der Wissenschaft. Es fordert von uns eine Stellungnahme zu den aktuellen Debatten über die Abkehr vom Prinzip der Nichtweiterverbreitung als Antwort auf die öfter festgestellte Missachtung des in der UN-Charta verankerten Gewaltverbots durch verschiedene Staaten. In einer Zeit, in der das Leben und die Wohlfahrt der Menschheit bedroht sind, ist die Wissenschaft mehr denn je gefordert, zu ihrer Verantwortung für die Folgen ihrer eigenen Arbeit zu stehen. Wir schließen uns dem damaligen Wort der „Göttinger Erklärung“ an: „Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen.“

Wir appellieren an Sie als politische Entscheidungsträger:

  1. Vermeiden Sie eine verharmlosende Unterscheidung von „taktischen“ oder „strategischen“ Atomwaffen. Sie ist heute noch gefährlicher als in den 1950er Jahren. Eine einzige taktische Atombombe kann in ihrer lokalen Zerstörungskraft, über die einer Hiroshima-Bombe hinausgehen. Strategische Atombomben mit bis zu tausendfach stärkerer Wirkung sind heutzutage für den interkontinentalen Einsatz vorbereitet. Ihr Einsatz hätte für ganze Staaten und Regionen, wenn nicht sogar für die ganze Welt, verheerende Konsequenzen (nuklearer Winter). Die Vorstellung „begrenzter Atomkriege“ ist irreal und höchst gefährlich. Noch Anfang Januar 2022 haben gerade die fünf Nuklearwaffenstaaten ein weiteres Mal erklärt, dass „ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“. Wissenschaftliche Studien zeigen eindrucksvoll, dass auch ein regionaler Atomkrieg Millionen Tote fordern, planetare Klimafolgen haben und globale Ernteschäden sowie Hungerkatastrophen verursachen würde.

 

  1. Deshalb muss das nukleare Wettrüsten ein Ende finden, statt durch die Entwicklung von vermeintlichen Führbarkeitsoptionen weiter ausgebaut zu werden. Neue nukleare Sprengköpfe auf europäischem Boden verbessern die Sicherheit der Bevölkerung nicht. Im Gegenteil, die Möglichkeit, dass Atomwaffen zur Kriegsführung eingesetzt werden oder im Falle eines Unfalls oder einer Fehlkalkulation zum Einsatz kommen, steigt angesichts neuer Trägersysteme, neuer disruptiver Technologien (Stichworte: Cyberangriffe und Künstliche Intelligenz, konventionelle Präzisionswaffen) und der permanenten Vernachlässigung von Rüstungskontrollverträgen. Bundesregierung und Parlament müssen sich verstärkt für die Wiederbelebung der gekündigten Rüstungskontrollverträge und eine Fortsetzung des New-START-Prozesses einsetzen.

 

  1. Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1970 darf nicht weiter aufgeweicht werden. Das gilt auch für die bestehende Beschränkung auf „nukleare Teilhabe“ im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrags. Andernfalls würde das bedeuten, dass ein bisher geltender Grundkonsens aufgekündigt würde. Wir erinnern daran, dass sich im Artikel VI des NVV die Atommächte bereits verpflichtet haben, wirksame Schritte für die volle Umsetzung des Vertrages zu unternehmen und Abrüstungsgespräche zu führen. Solche Schritte sind, nach einigen Abrüstungsfortschritten zu Beginn der 1990er Jahre, bisher insbesondere durch den fehlenden Dialog zwischen den USA und Russland blockiert. Beide Atommächte zusammen verfügen über 90 Prozent aller Atomwaffen und über verschiedenste regionale und globale Einsatzoptionen. Eine deutsche Atombombe würde das Ende des NVV bedeuten und eine nukleare europäische Abschreckung würde andere Staaten ermuntern, sich selbst Atomwaffen zuzulegen. Der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2017 angenommene generelle Atomwaffenverbotsvertrag, der bisher von fast 100 Staaten unterzeichnet und von über 60 Staaten ratifiziert wurde, jedoch ohne die Teilnahme der Atomwaffenmächte, verdient alleine wegen seiner humanitären Dimension stärkere Beachtung. Deutschland sollte sich im Interesse des Weltfriedens verstärkt für die Umsetzung dieser Verträge einsetzen! Programme zur Verifikation des Abzugs und zur Zerstörung von Atomwaffen in Europa könnten forciert werden.

 

  1. Die aktuelle Debatte über eine neue europäische Abschreckung ist ausgelöst worden durch die Nuklearrhetorik der russischen Regierung und die Zweifel an den Nukleargarantien des US-Präsidentschaftskandidaten Trump. Im Laufe der Geschichte des Kalten Krieges wurde immer wieder das Argument vorgebracht, Nuklearwaffen würden die Rückkehr großer internationaler Kriege verhindern. Dieser Glaube ist heute noch gefährlicher als er es früher schon war. Die europäischen Staaten müssen sich heute zusammenfinden, um die historischen Ansätze zur Rüstungskontrolle aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Dabei geht es um Rüstungskontrolle, zu der auch die Erhaltung des Umfassenden Teststoppvertrages gehört, als Ansatz für eine Vertrauensbildung, die schließlich, wie am Ende des Kalten Krieges, Abrüstungsmaßnahmen ermöglichen kann. Alle Nuklearwaffenstaaten müssen sich verpflichten, die aktuellen Obergrenzen ihrer Atomwaffen nicht zu erhöhen und überprüfbare Bestandsaufnahmen ihrer Atomwaffenarsenale beginnen.

 

  1. Sicherheit ist nicht allein eine militärische Frage. Die Sicherstellung der globalen Klimaziele und damit der Erhalt des biologischen und zivilisatorischen Lebensraums für alle Menschen erfordert gewaltige Investitionen in die Zukunft. Globale wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Wiederherstellung einer internationalen Vertrauensbasis sind dabei unerlässlich. Dies gilt für das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Herausforderungen. Es reicht von Impfstoffen und der Erzeugung von Nahrungsmitteln über den Erhalt von Umwelt und Natur bis hin zu nachhaltigen Energielösungen oder praktikabler Rüstungskontrolle und Abrüstung. Forschungen für die Effizienzsteigerung von erneuerbaren Energien oder zu anderen nachhaltig verfügbaren und risikoarmen Energieträgern sind unverzichtbar. Sie sind „Treibstoff“ für die Überwindung der Armut und den langfristigen Erhalt des Wohlstands. Klimasicherheit und damit verträgliche Energiesicherheit dürfen nicht einem neuen Wettrüsten geopfert werden.

Die derzeit beklagten Versäumnisse der Vergangenheit in Fragen der europäischen Sicherheit mögen ihren Anteil an der gegenwärtigen Lage haben. Wir sollten jedoch nicht das Risiko eingehen, durch neue Versäumnisse bei einer rechtzeitigen Klima- und Energiesicherheit in noch größere Bedrängnis zu geraten! Vielmehr sollten wir gemeinsam Wege aus der Gefahr beschreiten!

Erstunterzeichnende:

  • Prof. Dr. Ulrike Beisiegel, Hamburg
  • Prof. Karl-Hans Bläsius, Trier
  • Prof. Dr. Peter Brandt, Berlin
  • Prof. Dr. Lothar Brock, Frankfurt a.M.
  • Prof. Dr. Michael Brzoska, Hamburg
  • Dr. Hans-Georg Ehrhart, Bonn
  • Dr. Miriam Engel, Darmstadt
  • Dr. Ute Finckh-Krämer, Berlin
  • Prof. Hartmut Graßl, Hamburg
  • Prof. Dr. Caroline Gutjahr, Potsdam
  • Prof. Dr. Johann Ev. Hafner, Potsdam
  • Prof. Dr. Peter Hennicke, Wuppertal
  • Prof. Dr. Ingo Hofmann, Potsdam
  • Dr. Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal
  • Dr. Hans Misselwitz, Berlin
  • Werner Mittelstaedt, Haltern am See
  • Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, München
  • Prof. Dr. Götz Neuneck, Wuppertal
  • Prof. Dr. Hermann Nicolai, Potsdam
  • Prof. Dr. Konrad Raiser, Berlin
  • Prof. Dr. Godrat Rafat, Duisburg
  • Prof. Dr. Alexandra Retkowski, Cottbus
  • Prof. Dr. Michael Staack, Hamburg
  • Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Hamburg
  • Prof. Dr. Hubert Weiger, Nürnberg
  • Prof. Dr. Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Teningen

Weitere Unterzeichnende:

  • PD Dr. Jürgen Altmann, Dortmund
  • Dr. Detlef Bimboes, Berlin
  • Prof. Dr. Bernhelm Booß-Bavnbek, Roskilde
  • Dr. Rolf Czeskleba-Dupont
  • Dipl. Ing. Heinrich Gerhard Geerling, Königswinter
  • Ole H. M. Hinrichs, Wieren
  • Prof. Dr. Jochen Fuchs
  • Prof. Bijan Khadem-Missagh, Baden bei Wien
  • Dr. Erwin Knapek, Oberhaching
  • Dr. Regina Tahirih Lohndorf, Santiago de Chile
  • Dr. Thomas von Lutterotti, Berlin/Dubai
  • Dr. Wolfgang Nick, Nürnberg
  • Dipl.-Wiss. Jasmin Runge, Dubai
  • B.Sc. Paul Runge, Dubai
  • Dr. Joachim H. Spangenberg, Köln
  • Prof. Dr. Dieter Segert, Wien
  • Dipl. Päd. Inken Seifert-Karb, Kronberg
  • Dr. Manfred von Sperber, Berlin
  • Dipl. Geol. Tim Steinberg, Freiberg
  • Dr. Leyla Tavernaro-Haidarian
  • Dr. Godehard Wüstefeld, Berlin

Für weiteres Unterzeichnen wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle: info@vdw-ev.de