Am 30. April 2025 fand die 25. Veranstaltung der Reihe „Jung und Alt bewegt“ statt. Das Leitthema dieses Jubiläums war „One Health“. Im Mittelpunkt stand die enge Verflechtung von Mensch-, Tier- und Umweltgesundheit und deren Bedeutung für eine zukunftsfähige Landwirtschaft.
Gemeinsam mit der Referentin des Abends, Tierärztin, Agrarexpertin und u. a. Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Kritische Tiermedizin und des Gen-ethischen Netzwerks Dr. Anita Idel sowie den Ehrengästen Prof. Hartmut Graßl (renommierter Klimaforscher) und Prof. Hubert Weiger (Ehrenpräsident des BUND e. V.) diskutierten wir die Frage: Welches Potenzial bieten der Erhalt von Grünland und eine zukunftsfähige, nachhaltige Beweidung für die Biodiversität? Moderiert wurde der Workshop durch Dr. Maria Reinisch.
Bereits zu Beginn warf Dr. Idel einen kritischen Blick auf das Agrarsystem. Ausgebildet in einem System, das sich auf die Maximierung – Liter Milch, Kilogramm Fleisch, Masse pro Hektar – statt auf Vorsorge im Sinne von Planetary Health konzentriere, stellte sie klar: „Ob Tiermedizin oder Agrarwissenschaften: Wir lernen, ein krankes System am Laufen zu halten.“ Die massive Verwendung chemisch-synthetischer Substanzen, von Herbiziden über Antibiotika bis zu Stickstoffdüngern, habe gravierende Folgen für Biodiversität, Böden und (Tier-)Gesundheit. Besonders kritisierte sie die einseitige Züchtung auf Hochleistung: „Rinder wurden zum Nahrungskonkurrenten auf dem Acker, weil sie auf der Weide nicht mehr satt werden können.“
Unter dem Vortragstitel „Ko-Evolution. Evolutionsbiologische und kulturhistorische Aspekte nachhaltiger Landwirtschaft“ spannte Dr. Anita Idel einen weiten Bogen: Von der Entstehung vielfältiger Graslandschaften in Ko-Evolution mit Weidetieren bis zu den heutigen Monokulturen. Dabei betonte sie, wie sehr sich Grasland, das größte terrestrische Biom, in Europa in enger Ko-Evolution mit dem Auerochsenentwickelt habe. Diese symbiotischen Beziehungen seien Grundlage für fruchtbare Böden, Biodiversität und dadurch langfristige Klimaregulation.
Ein zentrales Argument Dr. Idels war die Bedeutung von Graslandökosystemen für die Speicherung von Kohlenstoff. Anders als Wälder, die im Holz sichtbar Biomasse akkumulieren, würden Graslandsysteme unterschätzt. Laut FAO speichern die Graslandsysteme weltweit 50 % mehr Kohlenstoff in ihren Böden als Wälder. Denn Gräser verfügen über besonders viele Feinwurzeln, deren energie- und nährstoffreiche Wurzelausscheidungen (Exsudate) Mikroorganismen fördern und zu erhöhter Humusbildung beitragen. Die Ko-Evolution von Grasland und mit Wiederkäuern wie Auerochsen, Wasserbüffeln und Bisons sei dabei zentral: Der „Biss“ der Weidetiere verstärkt Photosynthese und Wurzelbildung an. Daher plädiert Dr. Idel für eine veränderte Nutzung: Die Entstehung vieler Gesellschaften basiere auf einer Kultur mit Rindern.
Rinder müssen wieder als Teil der ökologischen Systeme verstanden und so gezüchtet und gehalten werden, dass sie zur biodiversen Landschaftsentwicklung beitragen. Ziel müsse es sein, von der industriellen Intensivtierhaltung hin zu agrarökologischen Praktiken zu gelangen, die Bodenfruchtbarkeit, Artenvielfalt und Klimaresilienz fördern.
Doch dieses System ist gefährdet: Bodenverdichtung und Biodiversitätsverlust sind direkte Folgen eines auf Ertrag und Intensität ausgerichteten Landwirtschaftsmodells. Besonders der großflächige Einsatz von Stickstoffdüngern wirkt laut der „Planetary Boundaries“ als „größter Gegenspieler biologischer Vielfalt“. Gleichzeitig leiden viele bäuerliche Betriebe unter politischen Rahmenbedingungen: Wirtschaftlicher Druck und einseitige Förderprogramme treiben sie in Hochleistungsstrukturen, die langfristig weder ökologisch noch ökonomisch tragfähig sind.
Prof. Hartmut Graßl knüpfte an Dr. Idels Ausführungen an und brachte eigene Erfahrungen aus dem Milchviehbetrieb seiner Kindheit sowie wissenschaftliche Erkenntnisse in die Diskussion ein. Er betonte, wie sehr sich sein Verständnis der ökologischen Bedeutung von Grünland durch Forschung vertieft habe. Idels Buch „Die Kuh ist kein Klima-Killer!“ lobte er als wichtigen Impulsgeber für eine differenzierte Debatte.
In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass es klare Reformen braucht: Prof. Hubert Weiger und Dr. Idel forderten unter anderem eine verpflichtende Tierhaltungskennzeichnung auch für Rinder, transparente Definitionen für Weidemilch sowie gezielte Förderprogramme für nachhaltige Beweidung. Prof. Weiger unterstrich dabei die enorme Bedeutung artenreichen Grünlands für den Schutz der Biodiversität – rund 50 Prozent der heimischen Artenvielfalt sei direkt davon abhängig. Er forderte einen intensiveren Dialog zwischen Gesellschaft und Landwirtschaft sowie eine klare politische Förderung ökologischer Tierhaltung.
Auch Praktiker:innen beteiligten sich an der Diskussionsrunde. Es wurde deutlich, dass viele Landwirt:innen bereits heute versuchen, anders zu wirtschaften, jedoch oft gegen finanzielle und strukturelle Widerstände zu kämpfen haben. Eine Bäuerin, die auf einem Betrieb mit Natura 2000-Flächen wirtschaftet, berichtete von der Bedeutung extensiver Beweidung für Artenvielfalt: „In einem einzigen Kuhfladen finden sich bis zu 60 Insektenarten – wir haben 17 Vogelarten auf unseren Flächen.“ Doch der finanzielle Druck ist enorm. Ohne gezielte Unterstützung, so ergänzte ein weiterer Teilnehmer, seien Maßnahmen wie Mutterkuhhaltung oder Weidehaltung an Waldrändern wirtschaftlich kaum tragfähig: „Ohne Geld aus Brüssel wird es nicht gehen.“ Dr. Idel forderte die Internalisierung der durch das industrialisierte Agrarsystem verursachten ökologischen Folgekosten. Denn Bäuer:innen, die sich um Boden, Biodiversität und Tierwohl bemühen, würden strukturell benachteiligt.
Der 25. Workshop von „Jung und Alt bewegt“ war ein Plädoyer für eine neue Sichtweise auf Landwirtschaft, Tierhaltung und Bodengesundheit. Dr. Idel machte klar: Wir brauchen nicht weniger Rinder, sondern die Ökologisierung des Agrarsystems. Die Frage muss lauten: Wie viele Rinder braucht der Boden?
Prof. Hartmut Graßl betonte zum Abschluss die Bedeutung praktischer Perspektiven für die wissenschaftliche und politische Diskussion. Zugleich stellte er die zentrale Frage in den Raum, wie sich wirtschaftliche Rahmenbedingungen schaffen lassen, die nicht nur das Einkommen der Landwirt:innen sichern, sondern auch gezielt eine ökologische, nachhaltige Landwirtschaft fördern.
Prof. Hubert Weiger griff diesen Gedanken auf und betonte, dass insbesondere im Bereich der Bodengesundheit eklatante Wissenslücken bestünden, die über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt worden seien. Ökonomische Steuerungsmechanismen müssten künftig auf ihre Auswirkungen auf natürliche Ressourcen überprüft werden. Weiger sprach sich daher klar für einen ganzheitlichen Ansatz in der Agrarpolitik aus.
Dr. Anita Idel ergänzte, dass in der Bodenkundeforschung weiterhin ein grundlegendes Wahrnehmungsdefizit bestehe: Die Ko-Evolution von Großherbivoren und Grasland werde in Deutschland bislang kaum beachtet. Diese fehlende Anerkennung biologischer Zusammenhänge sei ein zentrales Hindernis für nachhaltige Entwicklungen. Daher forderte Dr. Idel, die Potenziale nachhaltiger Beweidung sowohl wissenschaftlich als auch in der Förderpolitik stärker zu berücksichtigen, denn das Fazit laute weiterhin: „Weiter wie bisher ist keine Option.“