06. Mai 2024 | Universität Kassel – Campus Witzenhausen

Welche Rolle spielt die Aufklärung in der heutigen globalisierten und vernetzten Welt? Welche neuen Herausforderungen erfordern eine Neugestaltung der Aufklärung? Und wie kann diese neue Aufklärung aussehen?

Nach unserem Aktionstag im Herbst 2023 zur Verantwortung der Wissenschaft im Kontext von Dekolonialismus, ging es bei dieser Veranstaltung in Witzenhausen weiter mit der zentralen Frage „Brauchen wir eine neue Aufklärung?“. Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker und Prof. Praveen Jha lieferten dazu wichtige Impulse. In der anschließenden Diskussion wurde sowohl die transdisziplinäre Forschungspraxis des DITSL beleuchtet als auch die Interdependenzen zwischen Kolonialismus, Aufklärung, Wirtschaft und Klima vertieft. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Birgit Metzger und Dr. Maria Reinisch.

Prof. Maria Finckh leitete den Abend ein. Sie blickt zurück auf die Veranstaltungsreihe „Witzenhausen und der Kolonialismus 1898|2023 Von kolonialer Vergangenheit zu heutiger Verantwortung?“ in der die Universität anlässlich des 125. Gründungsjahrs der ehemaligen Deutschen Kolonialschule seit Anfang 2023 Veranstaltungen organisiert und sich mit der eigenen kolonialen Vergangenheit auseinandersetzt.

Die Keynote von Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker brachte die Komplexität und Interdependenz zwischen den Aufklärern des 18. Jahrhunderts, Kolonialismus sowie der neuliberalen Ökonomie zusammen mit dem Klimawandel und der Forderung einer neuen Aufklärung. Der Kolonialismus und die damit einhergehende Dominanz europäischer Mächte spiegelt sich nicht nur in politischen und wirtschaftlichen Strukturen (bis heute) wider, sondern auch in der kulturellen Hegemonie, wie beispielsweise durch die Vormachtstellung von europäischen Sprachen und Denkweisen. Die Gedanken der Aufklärung, die in Europa revolutionär waren, wurden auch dazu genutzt, die Vormachtstellung von Europäer:innen zu etablieren und rechtfertigen. Aus diesem Grund wird die Aufklärung von Personen aus ehemals kolonialisierten Ländern häufig als grundsätzlich kolonialistisch betrachtet. Diese Thematik erläuterte Prof. Praveen Jha ausführlich (s. u.). Auch heute noch ist gerade die finanzielle Ungerechtigkeit, die durch den Kolonialismus etabliert wurde, weiterhin sichtbar und wird durch den Kapitalmarkt verstärkt. Von Weizsäcker sieht die auf „Geiz, Eile und gnadenlosem Wettbewerb“ basierende wirtschaftliche Ordnung als großes Problem – sowohl für die weltweite Ungerechtigkeit national und international als auch für das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen und den Kampf gegen den Klimawandel.

Ernst Ulrich von Weizsäcker und der Club of Rome, dessen langjähriger Co-Präsident von Weizsäcker war, plädieren in ihrem Bericht „Wir sind dran“ bzw. auf Englisch „Come on“ für eine neue Aufklärung. Diese ist insbesondere geprägt durch das Konzept von Balance welches in allen Bereichen etabliert werden sollte. Die Balance zwischen Herz und Verstand, zwischen Mensch und Natur, zwischen Gerechtigkeit und Leistungsanreiz, zwischen Staat und Religion, zwischen öffentlichen und privaten Gütern. Die Liste könnte noch weitergeführt werden. Das Konzept „Ubuntu“ aus dem heutigen Südafrika hebt von Weizsäcker dabei hervor. Das Wort bedeutet so viel wie „I am because we are“ [Ich bin, weil wir sind]. Der Wert des Individuums ist der, welcher die Gemeinschaft der Person gibt, so von Weizsäcker. Abschließend geht von Weizsäcker auf die Notwendigkeit von globaler Nachhaltigkeit ein.

Ein zentraler Punkt dabei sei die Energieversorgung, die auf erneuerbare Quellen umgestellt werden muss. Global spricht er sich für einen Mechanismus von CO2-Ausgleich aus, bei dem Länder, die viel CO2 verbrauchen und verbraucht haben Lizenzen von Ländern kaufen müssen, die wenige Emissionen haben. Auf diese Weise würden die häufig ärmeren Länder finanziell vom Klimaschutz profitieren.

Ökonom und Soziologe Prof. Praveen Jha geht in seinem anschließenden Vortrag intensiv auf die Komplexität von Konzepten wie Moderne und Aufklärung und deren Verbindung zur europäischen Hegemonie ein. Er betont, dass diese Diskurse stark von eurozentrischen Perspektiven geprägt sind, die andere Kulturen und Geografien marginalisieren. Jha zitiert Hegel, der in seinen Vorlesungen eine eurozentristische Hierarchie zwischen Europa und dem Rest der Welt etabliert, was eine fundamentale Herausforderung für das Verständnis der Aufklärung darstellt.

Auch heutzutage werden diese Narrative ob gewollt oder ungewollt weiterhin verwendet. 2022 sagte beispielsweise der bekannte Diplomat Josep Borrell:

Ja, Europa ist ein Garten. Wir haben einen Garten gebaut. Alles funktioniert. Es ist die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt, die die Menschheit je erschaffen konnte – diese drei Dinge zusammen….. Der größte Teil der übrigen Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen. Die Gärtner sollten sich darum kümmern, aber sie werden den Garten nicht durch den Bau von Mauern schützen…. Die Gärtner müssen in den Dschungel gehen. Die Europäer müssen sich viel mehr für den Rest der Welt engagieren. Andernfalls wird der Rest der Welt auf unterschiedliche Art und Weise bei uns eindringen.“ (Josep Borrell, am 13. Oktober 2022 in der Europäischen Diplomatischen Akademie)

Jha und von Weizsäcker sind sich einig, dass der globale Kapitalismus und die Ideologie einer europäischen Privilegierung über die Kolonialzeit hinaus großen Schaden anrichten und die Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika darunter leiden. Jha weist darauf hin, dass die Aufklärung keine homogene Bewegung war, sondern von verschiedenen Stimmen geprägt wurde, die oft umstritten waren. Die Dekolonialitätsbewegung, vertreten durch Theoretiker wie Grosfoguel und Ndlovu-Gatsheni, untersucht die Machtstrukturen des Kolonialismus und betont die Notwendigkeit einer umfassenden Befreiung von der Kolonialität. Grosfoguel fasst zusammen:

Wir sind von der Charakterisierung des ‚Volkes ohne Schrift‘ im sechzehnten Jahrhundert zur Charakterisierung des ‚Volkes ohne Entwicklung‘ im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert und in jüngster Zeit zum ‚Volk ohne Demokratie‘ im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert übergegangen.

Diese Bewegung fordert eine kritische Betrachtung der eurozentrischen Erzählungen über den globalen Süden und betont die fortbestehenden Auswirkungen kolonialer Machtstrukturen auf moderne Subjekte. Jha schließt mit der Betonung, dass das europäische Aufklärungsprojekt unvollständig ist und weiterhin kontrovers diskutiert werden muss, insbesondere unter Berücksichtigung der Stimmen und Perspektiven aus dem globalen Süden. Seine Arbeit wirft wichtige Fragen auf über die eurozentrische Natur der Aufklärung und die Notwendigkeit einer inklusiveren und dekolonialen Betrachtung der Moderne.

Als Einstieg in die Diskussion stellte Prof. Brigitte Kaufmann die Transformation des Deutschen Instituts für Tropische und Subtropische Landwirtschaft (DITSL) vor, welches der Rechtsnachfolger der Deutschen Kolonialschule ist. Das DITSL fühlt sich in besonderer Weise verpflichtet, proaktiv einen höheren Standard für ethische Forschungspraxis zu integrieren, um zur Dekolonisierung der Wissensproduktion beizutragen. Insbesondere in ihrer Forschung in Kenia arbeitet das Institut seit vielen Jahren transdisziplinär. Die Projekte zur pastoralen Viehhaltung haben das Ziel, das traditionellen Narrativ der Überweidung und Verwüstung durch Weideviehhaltung zu hinterfragen und die Perspektiven von Viehzüchtern zu stärken. Von Anfang an wird in diesen Projekten gemeinsam mit den Viehhalter:innen gearbeitet, um Ergebnisse zu schaffen, die vor Ort relevant und handlungsorientiert sind.

Auf Nachfrage zum Umgang des DITSL mit seiner eigenen kolonialen Vergangenheit erläuterte Christian Hülsebusch die großen Schwierigkeiten Projektmittel zu akquirieren, da sie sich nur auf agrarwissenschaftliche Fördermittel bewerben dürfen. In einem neuen Projekt ist es ihnen gelungen Agrarwissenschaft und koloniale Aufarbeitung zu kombinieren. Gemeinsam mit einer Geschichtswissenschaftlerin wird untersucht welche Strategien der Viehzucht und Landnutzung in der Kolonialschule gelehrt und vermutlich durch Siedler in Namibia praktisch umgesetzt wurden. Im zweiten Schritt wird untersucht welche genetischen Auswirkungen diese Strategien auf die Rinderpopulation in Namibia heute haben.

Weiterhin boten die Diskussionsrunde und der anschließende Empfang die Möglichkeit des Austauschs über die vielfältigen und komplexen Zusammenhänge von Aufklärung, Kolonialismus, Nachhaltigkeit, Kapitalismus und dem Wunsch nach einer neuen Aufklärung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe.