*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Papst Franziskus: „Dritter Weltkrieg“ ist ausgebrochen

Papst Franziskus hat die Weltgemeinschaft angesichts des Ukraine-Kriegs dazu aufgefordert, sich vom üblichen Gut-Böse-Schema zu lösen. „Was wir sehen, ist die Brutalität und Grausamkeit, mit der dieser Krieg von den Truppen, in der Regel Söldnern, die von den Russen eingesetzt werden, geführt wird“, sagte er europäischen Kulturzeitschriften des Jesuitenordens in einem am Dienstag veröffentlichten Interview. „Aber die Gefahr ist, dass wir nur das sehen, was ungeheuerlich ist, und nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert wurde. Und ich registriere das Interesse am Testen und Verkaufen von Waffen. Das ist sehr traurig, aber darum geht es ja offensichtlich.“ Das katholische Kirchenoberhaupt sagte, manch einer möge ihm an dieser Stelle entgegenhalten, er sei pro Putin. „Nein, das bin ich nicht. So etwas zu sagen, wäre vereinfachend und falsch. Ich bin einfach dagegen, die Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind“, betonte Franziskus […]. [1; vgl. auch 2]

Dazu mein Kommentar:

„Ich bin einfach dagegen, die Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind“, diese vom derzeitigen Papst vorgenommene Einschätzung menschlichen, hier abstrakten Handelns dürfte zudem Ausdruck eines problemorientierten Denkens sein, überdies – ein wenig zugespitzt formuliert – den Stand sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnes auf der Basis aufgeklärten Bewusstseins und ebenso aufgeklärten menschlichen Wirkens repräsentieren. Der Papst zeigt sich hier als durchaus zeitgemäß, erweist es sich doch als überaus sinnvoll, den Menschen in ihrer häufig zu konstatierenden Selbstgerechtigkeit, in ihrer Scheinheiligkeit, ihrer Missgunst manchen Mitmenschen, insbesondere Konkurrenten gegenüber, in ihrer Selbstüberschätzung, ihrer vermeintlichen Vollkommenheit, in ihrem Bestreben nach Meinungsherrschaft und Machtausübung erst einmal einen Spiegel vorzuhalten, den Menschen ein gewissermaßen indirektes „Nein“ entgegenzuschleudern. Denn die Einteilung der Individuen nach „gut und böse“ präsentiert sich in der Tat als allzu simplifizierende Schlussfolgerung aus der Komplexität des Lebens, als einfache, wenig Differenzierung zulassende Einschätzung des menschlichen Daseins schlechthin. Die Vielfalt gesellschaftlicher Existenz, menschlicher Ausdrucks- und Erscheinungsformen im Blick zu behalten, menschliches Leben in seinen Ursachen und Präsentationsmodalitäten geistig nachzuvollziehen, menschliches Dasein in seinem Bestreben nach Perfektion und vermeintlicher Tadellosigkeit, aber auch in seinen Abgründen und Gefährdungen, in seiner Eigensucht, Selbstherrlichkeit und seiner Missgunst anderen gegenüber wahrzunehmen, und all dies quer durch die gesamte Menschheit, hier zeigen sich gewissermaßen Aufgaben, an denen sich die Menschen im Zuge von Lebensbewältigung abzuarbeiten haben. Auch das Bestreben, die vielfältigen Ursachen, Erscheinungsformen und Entwicklungslinien, was Lebensereignisse anbelangt, zu erkennen, zu interpretieren, ggf. zu bewerten und zu beurteilen, genau dies zeugt in Verbindung mit dem zuvor Gesagten von einer überaus differenzierten Sicht auf das Menschsein, weist hin auf die Komplexität menschlichen Daseins, auch auf die Notwendigkeit von Subtilität in den Beurteilungskategorien, auf Umsicht und Vorsicht, wie sie in jeden theologischen Diskurs über „Gnade und Gerechtigkeit“ einfließen sollten. Das Bewusstsein von Schuld und Sühne, Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit, Fehlerhaftigkeit und Versagen, dies zusammengefasst stellt ein unverzichtbares Element christlichen Lebensverständnisses dar und lässt die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zu einem, besser gesagt: zu dem entscheidenden Bestandteil christlicher Glaubenspositionen schlechthin avancieren.

In der Matthäus-Passion von J.S. Bach wird im berühmten Eingangschorsatz der Zeigefinger nicht auf  und gegen die anderen gerichtet, sondern dort heißt es ebenso verallgemeinernd-weltumspannend wie eindeutig und unmissverständlich:

Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen,
Sehet! – Wen? – den Bräutigam!
Seht ihn! – Wie? – als wie ein Lamm.
Sehet! – Was? – seht die Geduld,

Seht! – Wohin? – auf unsre Schuld.                                                        

Quellen:

[1] Yahoo-Startseite vom 14.06.2022

[2] Merz, Kathrin: Papst Franziskus: „Dritter Weltkrieg“ ist ausgebrochen; in: Berliner Zeitung (14.06.2022); https://prod.berliner-zeitung.de/news/papst-franziskus-dritter-weltkrieg-ist-ausgebrochen-li.236249; (letzter Abruf: 20.06.2022).

Dr. Michael Pleister
Dr. Michael Pleister

Dr. Michael Pleister hat an der Universität Hamburg die Fächer Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaft studiert, 1. und 2. Staatsexamen abgelegt, überdies mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zur Großstadtdichtung, um es knapp zusammenzufassen, bei Professor Karl-Ludwig Schneider promoviert. Er war danach als Lehrer mit den Fächern Deutsch und Geschichte zunächst im allgemeinbildenden Schulwesen, dort am Gymnasium, dann viele Jahre an der Bundeswehrfachschule tätig. Später nahm er an einem Gymnasium für ein Jahr die Stelle eines kommissarischen Schulleiters wahr.

Zahlreiche Lehraufträge in den Fachdisziplinen Sprachwissenschaft, Deutschdidaktik, Deutsch als Fremdsprache und auch im Bereich Geschichte führten ihn an diverse Hochschulen in Deutschland, so an die Universitäten in Hamburg, Bremen, Braunschweig und Magdeburg. An der Universität Lüneburg war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachdidaktik Deutsch tätig.

Mehrere hundert Besuche von Veranstaltungen im Bezugsfeld Theater, Oper und Konzert – detailliert chronologisch festgehalten auf seiner Homepage – bezeugen sein ausgeprägtes Interesse an Darbietungen im Bereich sog. Hochkultur, ein Interesse, das sich auch in seinen veröffentlichten Kommentaren und Verlautbarungen zu Theateraufführungen in Hamburg niedergeschlagen hat. Darüber hinaus hat Michael Pleister diverse Texte zu literaturgeschichtlichen, pädagogisch- didaktischen und bildungstheoretischen Themen publiziert. Auch im Ruhestand unterrichtet er zeitweilig im Bereich Deutsch als Fremdsprache. (vgl. auch www.michaelpleister.de)