*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Internationale wissenschaftliche Fachgesellschaften als generative Erzeugerinnen und Beschleunigerinnen ihrer Universalisierung

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würden und Rechten geboren“, beginnt Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wie ihn viele Staaten der UN am 10. Dezember 1948 beschlossen. Die indische Delegierte Hansa Mehta hatte dabei durchgesetzt, dass das „men“ der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789 durch „human beings“ ersetzt wurde, um auch dem wirklich Allerletzten klarzumachen, dass alle Geschlechter mitgemeint seien (vgl. hierzu und zum folgenden Arendt 1955, Behrens 1982 und 2019, Eckel 2014 und Muggenthaler 2023). Zwei Stränge können bei der – bisher stets holprigen – Universalisierung und Konkretisierung der Menschenrechte unterschieden werden, die einen Raum für die Verhandlung und Konkretisierung der Menschenrechte schufen: erstens der generative Strang von Recht und Politik (Seyla Benhabib terminiert diesen Strang von Kant an und spricht 2016 von seiner ‚Jurisgenerativität)‘, zweitens der meist übersehene Strang betont unpolitischer internationaler wissenschaftlicher Fachgesellschaften als generative Erzeugerinnen und Beschleunigerinnen der Universalisierung menschenrechtlicher Standards. Dieser Strang setzt mehr als 2000 Jahre vor Kant ein.
Strang 1 Generativität von Recht und Politik (Jurisgenerativität) seit Kant
1789 und die gebremste Sogwirkung
Die „Droits de l’Homme et du Citoyen“ von 1789 entwickelten eine sich selbst beschleunigende Sogwirkung, indem sich damals auf einmal auch die Personen auf ihr Menschsein und daher ihre Menschenrechte beriefen, die womöglich die revolutionären Massen der Französischen und Amerikanischen Revolution gar nicht gemeint hatten: Sklaven, Frauen, „Behinderte“. Wegen dieser Sogwirkung wundert es nicht, dass Südafrika, Saudi-Arabien, die Sowjetunion und ihre Verbündeten sich 1948 bei der Abstimmung über die UN-Erklärung der Menschenrechte der Stimme enthielten. Das „colonial office“ des United Kingdom
befürchtete von der UN-Erklärung das Ende des Empires.
Bürgerrechte und/oder Menschenrechte, Verbindlichkeitsschub erst 1975
Bis zur KSZE-Schlussakte von 1975 waren diese Befürchtungen einer jurisgenerativen Sogwirkung allerdings weit übertrieben. Der Grund dafür ist meiner Ansicht nach das „und“ zwischen den „Droits de l’Homme et du Citoyen“. Menschen- und Bürgerrechte können sich in der Reichweite ihrer Geltung deutlich unterscheiden. Ratifizierte Rechte knüpften zunächst am Status des Bürgers, nicht am Status des Menschen an. Einige Nationen übernahmen die Menschenrechte zwar in ihre ratifizierten Bürgerrechte. Diese galten allerdings für ihre Bürger, nicht für alle Menschen. Mehr als 30 000 Petitionen, die sich auf die Rechte als Menschen, nicht als Bürger beriefen, gingen zwischen 1948 und 1958 bei der UN-Menschenrechtskommission ein. Alle 30 000 blieben wirkungslos. Der langjährige Leiter des UN-Menschenrechtsbereichs und einer der Formulierer der UN-Menschenrechte, der Kanadier John Humphrey, fasste 1984 zusammen: die UN-Menschenrechtskommission sei der „aufwendigste Papierkorb, der je erfunden wurde“ (Humphrey 1984, S. 28).
Erst in der KSZE-Schlussakte von 1975 wurden sowohl die nationale Souveränität als auch die Anerkennung der Menschenrechte etwas verbindlicher festgeschrieben. Dissidentengruppen und religiöse Minderheiten beriefen sich auf sie. Vereinigungen wie „Amnesty international“ oder „Pogrom“ gewannen an Bedeutung, wenn sie quer zu den Fronten des Kalten Krieges Menschenrechtsverletzungen in allen drei Blöcken bearbeiteten und anprangerten. Zahlreiche Institutionen entstanden: UN-Hochkommissariat für Menschenrechte 1993, der Internationale Straf-Gerichtshof in Den Haag und andere. Die Menschenrechte wurden konkreter ausformuliert, z. B. in der UN-Behindertenrechtskonvention, z. B. im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese Konkretisierung sollte das Verständnis der Menschenrechte als lediglich formale bürgerliche Gleichheitspostulate berichtigen, welche die faktische soziale Ungleichheit in Klassengesellschaften perpetuiere. Ein Recht auf Entwicklung wurde aus den Menschenrechten abgeleitet (A. Sen 1999, Martha Nussbaum 2016, Behrens 1982 und Behrens & Zimmermann 2017). Samuel Moyn spricht von den Menschenrechten als „The Last Utopia“, auf die sich die von den Blöcken Enttäuschten einigen könnten (Moyn 2012, Buchtitel)
Strang 2: die Generativität wissenschaftlicher Fachgesellschaften von Professionen für die konkrete Universalisierung der Menschenrechte
In dem herunterzuladenden Beitrag soll an Beispielen die Generativität wissenschaftlicher Fachgesellschaften von Professionen für die konkrete Universalisierung der Menschenrechte skizziert werden. Dafür wurden drei Belege aus gesundheitswissenschaftlichen Fachgesellschaften erörtert. Erstens die Fachgesellschaft der Wanderheiler von der Insel Kos 400 Jahre v. u. Z., die nach dem Grundsatz ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten‘ das Recht auf unentgeltliche Behandlung der Armen, finanziert durch hohe Honorare der Reichen, als Profession garantierten – ohne Rückgriff auf einen Sozialstaat. Diese menschenrechtliche Entwicklung mehr als 2000 Jahre vor Kant leuchtet den Sozialstaaten seitdem voraus. Die zweite, durch regelmäßige fachgesellschaftliche Weltkongresse vermittelte Entwicklung ist die allmähliche, wenn auch noch keineswegs vollendete Aufgabe des Rassismus in der Medizin. Der dritte Beleg ist die Erarbeitung eines positiven Gesundheitsbegriffs in den therapeutischen, pflegerischen und medizinischen, auf Weltkongressen feierlich verabschiedeten fachwissenschaftlichen Klassifikationen (ICF). Generiert wird die Vorstellung „selbstbestimmter Teilhabe“ in den normativen Alltag gesundheitlicher Versorgung – durch den Eingang der Menschenrechte in tägliche diagnostische und anamnestische Klassifikationen. Dieser Alltag ist hochrelevant, weil ja die wenigsten alltäglichen Interaktionen vor Gericht oder in der Politik stattfinden. Gesundheitliche Versorgung bildet einen Raum im Alltag, in dem täglich über die Universalisierung der Menschenrechte, über externe und interne Evidence-Belege verhandelt wird. Das gibt den wissenschaftlichen Fachgesellschaften eine gar nicht zu überschätzende Verantwortung für die Universalisierung der Menschenrechte.
Fachwissenschaft kann sich nicht damit begnügen, über das wechselvolle Schicksal der Menschenrechte im politischen und im juristischen System zu spotten. Gerade in ihrer anscheinenden Politikferne gehören internationale wissenschaftliche Fachgesellschaften von Professionen faktisch zu den generativ einflussreichsten Institutionen einer konkreten Universalisierung der Menschenrechte. Sie haben diesen Einfluss, weil sie im Alltag mächtige Professionen verkörpern. Ihre faktisch große Verantwortung müssen sie aber auch bewusst übernehmen und reflektieren, soll sie Wirkung zeigen. Das ist die Verantwortung der Wissenschaft (VdW)

Dieser Text ist lediglich ein Hinweis auf ein kurzes Papier zum 10.12.2023, den Sie als PDF hier herunterladen können.

Prof. Dr. Johann Behrens
Prof. Dr. Johann Behrens
Nach dem Abitur im nordhessischen Steinatal und frühen Jahren als Rettungssanitäter, Kindergärtner und Fernsehjournalist beim HR studierte Johann Behrens Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Sozialmedizin und Pflegewissenschaften in Frankfurt a. M., Heidelberg und Detroit. Er wurde Diplom-Soziologe, Dr. phil. und Assistent in Frankfurt a. M. und bildete sich als Gastprofessor in Institutionsanalyse und Sozialpsychologie am Kurt Lewin Center der UofM , Ann Arbor fort. Seine Habilitationsäquivalenz in Therapie-, Pflege- und Gesundheitswissenschaften wurde von der Universität Bremen festgestellt. Darüberhinaus habilitierte er in Sozialökonomie (Bochum). Behrens diente dem DFG-Sonderforschungsbereich 3 (Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik, Frankfurt und Mannheim) als Kooperand sowie als Antragsteller, Projektleiter und Vorstand, teilweise als Sprecher, dem Zentrum für Sozialpolitik (Bremen), dem DFG-SFB 186 (Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf, Bremen 1988-2000), dem DFG-SFB 580 (Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch, Halle und Jena, 2000-2012), den BMBF-Verbünden ‚Demographischer Wandel und Zukunft der Arbeit‘ sowie „Evidencebasierte Pflege chronisch Kranker und Pflegebedürftiger in kommunikativ schwierigen Situationen‘. Das Nationale Zentrum für Frühe Hilfen gründete er als berufenes Mitglied des Gründungsbeirats mit. 1998 gründete Behrens mit Kolleginnen und Kollegen das erste Center for Evidence based Nursing auf dem eurasischen Festland. 1999 wurde er in Halle-Wittenberg Gründungsdirektor des ersten Institutes für Gesundheits- einschließlich Therapie- und Pflegewissenschaften an einer deutschsprachigen öffentlichen Medizinischen Fakultät. Sein Publikationsschwerpunkte sind außer Pflege, Therapie und Arbeitsmarktpolitik vor allem historisch anthropologische Erkenntnis-, Entscheidungs- und Handlungstheoie. Er hat Professuren und Gastprofessuren u. a. in Ann Arbor (UofMichigan), Fulda, Halle-Wittenberg, Innsbruck, Kassel, Gmünd, Toronto und Hamilton (McMaster), Bochum, Luxemburg, St. Gallen. Zusätzlich lehrt er im Halleschen Graduiertenkolleg und Promotionsstudiengang „Selbstbestimmte Teilhabe als Ziel von Pflege und Therapie“. Behrens war langjähriger Vorstand der Dekanekonferenz Pflegewissenschaft und Member oft the Board der Commission for Evaluation der ICOH/WHO und ist seit 1982 gewählter Vorstand des Frankfurter ‚Instituts für Supervision, Institutionsanalyse und Sozialforschung‘ sowie im VDW Sprecher der SG „Gesundheit als selbstbestimmte Teilhabe“ und im Beirat.