*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Laut dem EU-Eurobarometer von 2021 halten die Dänen Wissenschaftler zu 79 % für zuverlässig, bei den Deutschen sind es nur 59 %; für ehrlich halten sie in Dänemark 76 %, in Deutschland nur noch 49%. Auch gegenüber dem EU-Durchschnitt gelten die Deutschen als besonders wissenschaftsskeptisch. Das ist eine beängstigende Situation besonders in Krisenzeiten, in welchen Wissenschaftler mehr als sonst gefragt sind. In Zeiten von Corona und Klimawandel dominieren notwendigerweise Wissenschaftler die öffentliche Wahrnehmung auf eine Weise, die verdienten Publizisten Angst macht, auch wenn sie wie Heribert Prantl,[i] Jakob Augstein[ii] oder auch Sarah Wagenknecht[iii] alles andere als Verschwörungstheoretiker sind. Sie verteidigen die Freiheit der eigenen Entscheidung gegenüber wissenschaftlichen Aussagen auf eine Weise, die ebenso wissenschaftsfremd ist wie Grenzen durch Gefährdung anderer außeracht lässt. So behauptet z. B. Augstein im Freitag vom 31. März 2021 gegenüber der Physikerin Angela Merkel, welche von der „Kraft der Aufklärung“ bei der Coronabekämpfung sprach, dass eine demokratische Gesellschaft ein Virus nicht auf Dauer besiegen kann – einfach übersehend, dass und wie Masern und Polio weltweit verschwunden sind.

Wissenschaftliche Mehrheitsmeinung gilt den selbsternannten Apologeten der bürgerlichen Freiheiten wenig. Vergessen wird, dass es oft erst Mehrheiten waren, welche der Wahrheit zum Durchbruch verhalfen. Das heliozentrische Weltbild von Galilei und Kopernikus setzte sich gegen den Widerstand der Kirche erst durch, nachdem es eine genügende Zahl bedeutender Wissenschaftler verteidigte.  Die ohnehin immer offene Mehrheitsbildung unter Wissenschaftlern spielt für die Wahrheitsfindung naturgemäß eine umso größere Rolle, je mehr sich die beobachteten grundlegenden Faktoren ständig verändern, wie das bei Epidemien und auch beim Klima der Fall ist.

Woher kommt die erschreckend hohe Zahl von Wissenschaftsskeptikern in Deutschland? Dabei geht es um mehrere, meist wenig reflektierte Gefühle. Besonders ältere Deutsche sehen vielleicht immer noch mehr als z. B. Dänen hinter Naturkatastrophen einen zürnenden Gott.[iv] Solange Kirchen glauben machen, die Ausbreitung von Viren oder Wetterkatastrophen als Folge der Klimaänderungen ließen sich durch Gebete abwenden, werden viele Menschen andere als rationale Lösungen suchen. Christen sollten eher um den Gebrauch von Verstand, Einsicht und Phantasie bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme beten, Gaben die nicht umsonst nur dem Menschen zur Verfügung stehen. Eher irrationale Auswege offerieren auch andere, gerade in Deutschland immer noch populäre Weltanschauungen wie die Anthroposophie. Und, viele Deutsche misstrauen auf Grund ihrer Geschichte allen Autoritäten, auch staatlich finanzierten Wissenschaftlern. Es wäre viel gewonnen, wenn tonangebende Publizisten nicht irrationalen Argumenten Tür und Tor öffneten, sondern dem Schutz anderer mehr berücksichtigen und sich immer auf ihre persönliche  Entscheidung beziehen würden. Wissenschaftler sind aufgerufen, ihre Ergebnisse als vorläufig zu bezeichnen, als eindeutig nur, wenn dies unstrittig möglich ist.

Besonders Naturwissenschaftler begnügen sich zu häufig damit, ihre Einsichten mit kompetenten Fachkollegen zu teilen, und sie im Übrigen in ihrem Kämmerlein für sich zu behalten. Sie folgen da manchmal Galilei,  den Bertold Brecht in seinem Stück sagen lässt „Ich schätze meine Bequemlichkeit“ als er sich weigert, zugunsten der Wahrheit die Flucht vor seinen Peinigern zu ergreifen.

Prof. Dr. Hans-Jörg Schneider
Prof. Dr. Hans-Jörg Schneider
FR Organische Chemie der Universität des Saarlandes
E-Mail: ch12hs@rz.uni-sb.de
www.uni-saarland.de/fak8/schneider

Prof. Dr. Hans-Jörg Schneider, Jahrgang 1935 studierte ab 1955 Chemie, Biologie und Philosophie in Tübingen, München und Berlin (TU). Seine Promotion erfolgte 1967 in Tübingen. Von 1967 bis 1969 war er als PostDoc an der University of California, San Diego und 1969/70 als wissenschaftlicher Assistent bei Walter Hückel in Tübingen angestellt, während er seine Habilarbeit fortsetzte. Seit 1972 ist er Professor für Organische Chemie an der Universität des Saarlandes. Hans-Jörg Schneider ist zudem Autor/Herausgeber u. a. von fünf Fachbüchern und ca. 290 Publikationen inklusive zahlreicher Reviews. Früher war er Mitglied bei SDS, später bei VDW (seit Januar 2015), attac, etc.