*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Nun im Spätwinter 2022, nach etwa zwei Jahren Corona-Pandemie-Management und der evidenzbasierten Politik des „Follow the Science“, stellt sich auch für „die“ (medizinische) Wissenschaft die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung. Dabei geht es in erster Linie um die Qualität und Sicherheit des Wissens, das wegen der darauf aufbauenden kollektiven Ordnungsmaßnahmen gesellschaftsverändernde Folgen hat: 1. Welche Art von Wissenschaft hilft in Krisen? 2. Was ist eigentlich „Corona-Medizin“? 3. Wie ist die Wissens-Qualität? 4. Was ist zu tun?

Ad 1 – Krisen-Wissenschaft: Das Management der Corona-Pandemie muss mit „unnormalen“ Merkmalen umgehen; dies sind (a) eine unsichere Faktenlage der (prospektiven) Inzidenz, (b) die breite Betroffenheit der Weltbevölkerung für (c) das höchste Gut Gesundheit, und es besteht (d) ein hoher Entscheidungsdruck. Für Wissenschafts-basiertes Management charakterisieren diese vier Merkmale eine „postnormale Wissenschaft“ (PNS; Funtowicz & Ravetz 1993). Normale Wissenschaft maximiert sukzessive sicheres Wissen, ist aber auch skeptisch und sieht das Wissen als hypothetisch an. Dieses Wissen, so zeigt es die Wissenschaftsphilosophie, kommt als Empirie aus quantifizierten Beobachtungen, die in Theorien und Modellen zusammengefasst werden.  Das reicht für die PNS nicht aus, denn wegen der unsicheren Faktenlage muss auch Wissen von anderen Problem-Beteiligten und -Betroffenen einbezogen werden. In diesem Sinne sind neben der akademischen Multi- bzw. Interdisziplinarität auch Praktiker (Ärzte, Pflegepersonal) und direkt vom Problem Betroffene (Patienten, Angehörige) zu berücksichtigende Wissensträger. Dies gilt als Wesensmerkmal der Transdisziplinarität. Derartige epistemische Kriterien einer neu gedachten Wissenschaft sind beispielsweise essentiell für die methodische, kommunikative und organisatorische Gestaltung der Nachhaltigkeitswissenschaft (Bammer 2013). Wie sieht das nun für die „Corona-Medizin“ aus?

Ad 2 – „Corona-Medizin“:  Ende 2019 wurde COVID-19 von der klinischen Medizin in Wuhan als schwerste Lungenerkrankung erkannt. Einige Wochen später wurde das Corona-Virus SARS-CoV-2 als Krankheitsursache identifiziert, und spezifische Tests (PCR-Tests) standen bald zur Verfügung. Das ist Verdienst der Virologie und der molekularbiologischen Labormedizin. Die Epidemiologie errechnete rasch und zutreffend das Pandemie-Potenzial des Virus. Wissenschaft wurde nun zum vorrangigen Ratgeber der Politik, Corona dominierte das Denken und Handeln der Menschheit. Allerdings blieben bis heute die Virologie (Tiermedizin, Molekularbiologie, Mikrobiologie) und die Epidemiologie (Mathematik, Statistik, Physik) als Leitwissenschaften und wissenschaftliche Meinungsmacher. Sie sind jedoch im Kontext der Humanmedizin Hilfsdisziplinen. Oft äußerten sich diese Fächer ohne ihre disziplinären Fachgrenzen zu beachten, obwohl es Fragen zur Exposition, zu Erkrankungsrisiken, zur Behandlung,  zum öffentlichen Leben und zur allgemeinen Lebensführung gibt, für welche andere Spezialfächer wie Innere Medizin, Immunologie, Intensivmedizin, Neurologie, Pädiatrie, Hygiene, Umweltmedizin, Arbeitsmedizin, Pharmakologie, öffentliche Gesundheit (Public Health), Versorgungsforschung, Medizinpsychologie, Medizinsoziologie, Gesundheitsökonomie usw. kompetent sind. „Corona-Medizin“ als medizinische Betrachtung und Regelung des Corona-Problems zeigt deshalb ein unbalanciertes und desintegriertes Fächerprofil. Diese fachliche Asymmetrie spiegelt sich in Beratungsgremien wie auch in der Medienpräsenz, was sich letztlich in der öffentlichen Meinung abbildet. Corona-Medizin ist also eine Virus- statt Krankheits-zentrierte labormedizinische Perspektive mit Geltungsanspruch für die reale Lebenswelt mit präventiver und nicht kurativer Orientierung. Es fragt sich auch, auf welches Menschenbild sich diese nicht-humanwissenschaftlichen Fächer stützen (siehe oben).
Kurz gesagt: Zwar geht Corona-Management ohne Virologie und Epidemiologie nicht. Aber Virologie und Epidemiologie sind dabei nicht alles! Hinzu kommt, dass die Evidenzqualität der Corona-Medizin mäßig ist, da es zu wichtigen Fragen im Sinne der evidenzbasierten Medizin kaum aussagekräftige randomisierte kontrollierte Studien (z. B. Virus-Expositionsstudien) gibt und – vor allem der Pandemie-Dynamik aber auch der Ethik geschuldet – auch nicht geben kann. Auch sind die Erkenntnisse datengetrieben und nicht hypothesengeleitet. Das führt je nach Publikation zu stark wechselhaften „Fakten“ und damit zu Verwirrungen, nicht nur in der öffentlichen Meinung. Nicht zuletzt sind mangels systemisch-mechanistischer Pandemie- und Krankheits-Modelle auch Gefährlichkeits-Prognosen zu Mutanten und Inzidenzen sehr vage: Bereits der differentielle Wirknachweis von Regulationsmaßnahmen auf die Inzidenzkurve kämpft mit der Eigendynamik der Regelbefolgung der Bevölkerungberücksichtigt weitere Elemente des Regelkreises des Corona-Managements zu wenig (Latenzen des veränderten Expositionsverhaltens ebenso wie antizipatorisches Verhalten, Verzögerung politischer Entscheidungen und deren behördlicher Umsetzung usw.).

Ad 3 – Wissensqualität: Idealtypisch wäre eine „Theorie der Pandemie“ als eine ideelle Ordnungsstruktur hilfreich, um die inter- und intranationalen Variationen der Pandemieverläufe zu „beschreiben“, zu „erklären“ und zu „prognostizieren“ (Tretter et al. 2021a). Das ist nicht gegeben. Vielmehr zeigt sich die Prognostik datengetrieben, ohne mechanistisches Modell der Pandemie-Treiber und -Bremser. So fehlen sozialwissenschaftliche Differenzierungen des bekannten SIR-Grundmodells, das mit S für die „Suszeptiblen“, mit I für die „Infizierten“ und mit R für die „Rekonvaleszierten“ steht. Das ist der Nachrangigkeit der Sozialwissenschaften im Fächerkanon der Medizin und der mathematisch-physikalischen Ausrichtung der Epidemiologie geschuldet. Auch fehlt eine das COVID-19-Syndrom erklärende Systempathologie. Immunologie alleine, die nur aspekthaft und nicht systemisch verstanden ist, reicht nicht aus.

Ad 4 – Was tun? Es wäre zunächst der Wissenschaftsstatus der Corona-Medizin aus epistemologisch/wissenschaftstheoretischer Sicht zu klären und das Corona-Wissen auf seine ökologische Validität hin zu diskutieren. Die zu erwartende Sommerpause des Virus könnte sich dazu gut eignen, setzt aber die Bereitschaft zur Selbstreflexion der meinungsbildenden Akteure voraus. Vor allem eine Aufwertung der klinischen Erkenntnisse ist nötig. Das erfordert aber eine konzeptuell-theoretische Basis für die Wissensintegration, mit der sich die Medizin – im Gegensatz zur Nachhaltigkeitsforschung – schon vor Corona schwergetan hat. Bereits ein konsequentes „theoretisches Framing“ der Daten durch das bio-psycho-soziale Modell von Engel und das Modell der Infektionstriade (Agens/Wirt/Umwelt) wäre für ein konsistentes Verständnis der kollektiven wie auch der individuellen Corona-Pathologie grundlegend hilfreich. Dabei müssten systemdynamische Aspekte der organismischen Entzündungsmechanismen ebenso wie der soziokulturellen Ebene der Pandemie-Dynamik berücksichtigt werden (Tretter et al. 2021b). Auch Wissenschaftskommunikation und Gesundheitsverhalten wären neben der Versorgungsepidemiologie weitere sozialwissenschaftliche Themen, die analytisch reflektiert werden müssten.  All dies wäre eine Aufgabe einer fast nicht vorhandenen Wissenschaftsphilosophie der Medizin. Eine weiterhin biotechnologisch und datenanalytisch getriebene Corona-Medizin bedeutet eine Reduktion der Physiologie (und Psychologie) der infizierten Menschen und deren soziale Lage auf Moleküle und Daten und ist daher nicht ausreichend. Eine Steigerung der methodischen Pluralität bis zur Transdisziplinarität, die die Sicht der ÄrztInnen, PflegerInnen, PatientInnen und Angehörigen grundlegend berücksichtigt, und dabei die Integration dieser Erkenntnisse leistet, wäre dringend nötig. Das könnte auch zur Entpolarisierung der öffentlichen Meinung beitragen.

Quellen:

Bammer, G. 2013. Disciplining interdisciplinarity: Integration and implementation sciences for researching complex real-world problems. Canberra: ANU Press. https://doi.org/10.26530/OAPEN_459901.

Funtowicz, S. O., J. R. Ravetz. 1993. Science for the post-normal age. Futures 7/25: 735-755. https://doi.org/10.1016/0016-3287(93)90022-L.

Mitchell, S. 2002. Integrative Pluralism Biology & Philosophy 17(1):55-70 DOI:10.1023/A:1012990030867

Tretter, F. 2022. Wissensgesellschaft im Krisenstress. Parados, Berlin

Tretter F., M. Batschkus, D. Adam. 2021a. Wo bleibt die Theorie der Pandemie? Bayerisches Ärzteblatt 12: 616-617.

Tretter F., Wolkenhauer O., Meyer-Hermann M., Dietrich J. W., Green S., Marcum J. and Weckwerth W. 2021b. The Quest for System-Theoretical Medicine in the COVID-19 Era.  Med.8:640974. doi: 10.3389/fmed.2021.64097

Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter
Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter
Felix Tretter ist Arzt mit den Schwerpunkten Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie und Suchtmedizin. Er leitete eine suchtmedizinische Abteilung einer psychiatrischen Großklinik bei München. Darüber hinaus ist er auch Philosoph, Sozialforscher und Systemforscher und hält Vorträge und veranstaltet Seminare, Workshops und Symposien zu verschiedenen wissenschaftlichen Themen. Seine Doktorarbeiten befassten sich mit den Themen Hirnforschung (Dr. phil.), der Systemtheorie des Gesundheitswesens (Dr. rer. pol.) und der Pathometrie des Delirum tremens (Dr. med.). Prof. Felix Tretter widmete sich auch der Umweltmedizin in Deutschland und war in Fort- und Weiterbildungen sowie an einschlägigen Forschungsprojekten beteiligt und verfasste mehrere Publikationen zu diesem Thema. Er habilitierte sich in klinischer Psychologie und wurde am Department für Psychologie der LMU München zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Er ist Ehrenpräsident der Bayrischen Akademie für Suchtfragen (München), Vizepräsident des Bertalanffy Centers für Systemwissenschaft (Wien) und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (Berlin).