Physiker, Grenzgänger und langjähriger VDW-Vorsitzender
Von Götz Neuneck, VDW-Vorsitzender, 18. Mai 2024
Aus Anlass seines 10. Todestages erinnert die VDW an ihren langjährigen Vorsitzenden (1981-1986; 2002-2007) und Pugwash-Beauftragten Prof. Hans-Peter Dürr, der vor zehn Jahren am 18. Mai 2014 in seiner Wahlheimat München verstarb.
Als Schüler von Edward Teller und Werner Heisenberg war er nicht nur ein prominenter Physiker, sondern in späteren Jahren auch Naturphilosoph, Friedens- und Umweltaktivist, der global wie lokal viele Impulse gegeben hat und wie kein zweiter „neues Denken“ einforderte. Nach einer Karriere als theoretischer Physiker und Direktor in der Max-Planck-Gesellschaft, bei der er sich u.a. als Nachfolger Heisenbergs der Ausformulierung der Quantenfeldtheorie widmete, mischte er sich zunehmend in gesellschaftspolitische Zukunftsfragen wie nukleare Abrüstung, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit ein. Als deutscher Pugwash-Vertreter trat er nach seiner physikalischen Karriere zunächst für die politische und militärische Entspannung im Ost-West-Konflikt ein und erreichte damit auch Michael Gorbatschow. Einem breiteren Publikum bekannt wurde Dürr in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch sein öffentliches Wirken gegen Reagans Star Wars-Pläne, für das er den alternativen Nobelpreis erhielt.
© Peter Ludwig
Auch konkrete Energieprojekte in München förderte er und erhielt dafür u.a. die Ehrenbürgerwürde Münchens und viele weitere Auszeichnungen. Als prominenter Physiker und Schüler Heisenbergs engagierte er sich in Energie- und Umweltfragen und warb für einen ökologischen und nachhaltigen Umgang mit der Natur. Die Leitidee des Russell-Einstein-Memorandums „to think in a new way“ verkörperte er in beispielhafter Weise. Hans-Peter Dürr hat bis heute viele Spuren in der VDW, aber auch in der Friedens- und Umweltbewegung hinterlassen. Er wurde zu einem alternativen Denker und Visionär, der sein Publikum anstecken und begeistern wollte und konnte. Bis heute ist sein Denken und Handeln Vorbild für viele.
Eine faszinierende Biografie: Vom Theoretiker zum Grenzgänger
Der 10. Todestag ist eine Gelegenheit, Hans-Peter Dürrs Weg und Wirken wieder ins Gedächtnis zu rufen. Als theoretischer Physiker beließ er es nicht bei wissenschaftlichen Vorträgen und philosophischen Reflektionen, sondern er wollte konkret, global wie lokal, wirken. Von ihm initiierte Gründungen wie das „Global Challenges Network“ (GCN) künden davon. Seine empfehlenswerte, biografische Sammlung „Warum es ums Ganze geht“ (Oekom Verlag München 2009) zeigt den langen Weg auf, den er zurückgelegt hat.¹
Hans-Peter Dürr hat in Stuttgart die Schrecken und das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt, studierte Physik in Stuttgart („Ich wollte erforschen, was die Welt im Innersten zusammenhält!“ (S.22)) und ging als einer der ersten deutschen Nachwuchswissenschaftler nach dem Kriege nach Berkeley/Kalifornien. 1953 begegnete er dort Edward Teller, der sein Doktorvater wurde. Dieser war sehr freundlich und begegnete dem Deutschen ohne Vorbehalte. Das Entsetzen über Deutschlands historische Schuld unter den Nazis führte ihn zu Hannah Arendt und seinem späteren politischen Engagement.² Die Philosophin sensibilisierte ihn für gesellschaftspolitische Fragen: “Du musst dich einmischen, du musst ein Grenzgänger werden“ (S.34). 1954 lernte er auch die amerikanische Bürgerrechtlerin Carol Sue Durham kennen, die er 1956 heiratete. Sie brachte ihn im wörtlichen Sinne zum Tanzen. Wer einmal bei Hans-Peters „Tanzfesten“ war, kennt den lebensansteckenden, verjüngenden Optimismus des Ehepaars. Der erste erfolgreiche Test einer transportablen Wasserstoffbombe im März 1954 schockierte ihn zutiefst. Ihm wurde klar, dass sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges „Naturwissenschaft und Machtpolitik [sich] am engsten berührten.“ Die intensiven Gespräche mit seinem Doktorvater Teller (Einmal warf dieser ihm ein Buch an den Kopf), der zu dieser Zeit an der Wasserstoffbombe arbeitete und in das Disziplinarverfahren gegen J. Robert Oppenheimer verwickelt war, vermittelte ihm die Ambivalenz und Machtförmigkeit der Ergebnisse physikalischer Forschung. Tellers Credo war frei nach Francis Bacon: „Alles, was man weiß muss auch gemacht werden“ (S.27) Teller sei zwar sein Doktorvater, aber nicht sein Vorbild gewesen: „Teller wurde für mich „die“ imposante Symbolfigur für den Verlust der Unschuld der Wissenschaft“ (S. 27)
Dürr schloss sein Promotionsstudium in den USA 1956 ab und ging auf Empfehlung Tellers und Vermittlung von Franz-Josef Strauss zurück nach Deutschland zu Werner Heisenberg. Ab 1958 war Dürr dessen Mitarbeiter und ab 1976 sein Nachfolger als Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik in München – ein Amt, das er mit einer mehrjährigen Unterbrechung bis 1992 ausübte. Er wurde Zeuge der Debatte um die Göttinger Erklärung 1957, die er als „mutigen Schritt“ und „Aufstand des Gewissens“ gegen das atomare Wettrüsten und als Position für Frieden (S.49) betrachtete. Zwei Jahrzehnte war Werner Heisenberg sein Lehrmeister, den er als jugendlich, vital, engagiert, gutmütig, bescheiden und künstlerisch beschrieb (siehe Kapitel II, S.43ff.): „Er hat uns gelehrt, dass Wissenschaft etwas äußerst Aufregendes und Schönes sein kann, wenn man bereit ist, sich mit voller Kraft zu engagieren.“ (S.47)³ Ende 1970 hatte Heisenberg ihm die Leitung des MPI übertragen und in der Folgezeit beschäftigte sich Dürr über 20 Jahre weiter intensiv mit Physik, konkret mit der Ausformulierung der Quantenfeldtheorie: „Meine Arbeit als Physiker hat mich aber auch hinaus in die Welt geführt, so dass ich über die Wissenschaft Kontakte sammeln konnte.“ [VDW-Interview S.348] Ab 1977 begann sich HPD, wie wir ihn nannten, im Zuge der Friedensbewegung „politisch einzumischen“. Zunächst beschäftigte er sich, sehr zum Leidwesen der Max-Planck-Gesellschaft, kritisch mit der deutschen Kernenergiekontroverse. Ebenso wie die Debatte um die Einführung eines undurchdringbaren Abwehrschirms gegen Atomraketen durch die Star-Wars-Rede (SDI) von Präsident Reagan am 23. März 1983, die von E. Teller angeregt wurde, waren bei beiden Kontroversen physikalische Kenntnisse unabdingbar. Schnell profilierte sich Hans-Peter Dürr in der Bundesrepublik zu dem fachlich versiertesten Kritiker von SDI und erhielt dafür 1987 den „alternativen Nobelpreis“ (Right Livelihood Award). Statt enormer Geldausgaben für absurde Militärtechnologien, votierte er für verstärkte Investitionen in alternative Technologien und Nachhaltigkeit, die allen Menschen zugutekommt.
Von 1985 bis 1987 leitete Dürr in Starnberg das von der DFG geförderte Forschungsprojekt „Stabilitätsorientierte Sicherheitspolitik“, aus dem das Konzept der „Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ hervorging. Aufgrund von Dürrs Kommunikationsfähigkeiten als deutsches Mitglied im Pugwash-Council fanden die Konzepte und Ideen des Projektes Eingang in internationale Workshops und von dort sogar in die Planungsstäbe der Sicherheitsbürokratien der Großmächte und in die konventionelle Rüstungskontrolle.⁴ In der Hoffnung auf eine institutionelle Verstetigung der Diskussion, wenn nicht gar der blockübergreifenden Kooperation, gründete Dürr zusammen mit Michail Gorbatschow, Robert McNamara und Horst-Eberhard Richter die „International Foundation for the Survival and Development of Humanity.“ Bei Eröffnungsreden (IPPNW 1985), Friedenskongressen (Mainz 1983) und internationalen Treffen (Moskau 1987) begeisterte er das friedensbewegte Publikum mit neuen Gedanken und Impulsen. Aber HPD wollte nicht bei der Kritik von Waffensystemen und Militärkonzepten stehen bleiben. Er regte eine „Weltfriedensinitiative“ an, die auf „die eigentlichen Ursachen für die weltweiten Konflikte und von Kriegen aufmerksam machen“ sollte. Er schrieb: „Damals wie heute sind es Umweltzerstörung, Verknappung von lebenswichtigen Ressourcen, Armut und Hunger in der sogenannten Dritten Welt und alle daraus resultierenden sozialen Ungerechtigkeiten, die die Menschen immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen treiben.“ (S. 61) Vieles von diesem Denken ist in die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen eingeflossen. Zentral für ihn war, den Krieg als Ultima Ratio zu ächten, eine Forderung die schon im Russell-Einstein-Manifest von 1955 zu finden ist.
Als 1989 die Mauer fiel, wandte sich Dürr hauptsächlich gesellschafts- und umweltpolitischen Zukunftsfragen zu, aber auch naturphilosophischen Themen. Seine Bücher „Das Netz des Physikers“ (1988) und „Geist und Natur“ (1989) behandeln grundlegende natur- und erkenntnisphilosophische Probleme. Dafür erntete er von manchem Fachkollegen den vorschnellen Vorwurf der Esoterik. Bei seinen Vorträgen begeisterte er durch Mut machenden Optimismus. Die Unvorhersehbarkeit der Natur pflegte er häufig mittels eines mitgeführten Tripelpendels im Experiment zu veranschaulichen. Für die Fachphysik wurde er ein unbequemer Querdenker, für Politik und Gesellschaft hingegen ein alternativer Ideengeber und für die Jugend ein begeisternder Visionär.
Er wurde Mitglied in vielen Vorständen, Kuratorien und Beiräten so z.B. bei Greenpeace, den Internationalen Ärzte für die Verhinderung des Atomkrieges (IPPNW) oder dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), eine ideale Voraussetzung für weitere Vernetzung. Er erhielt viele Auszeichnungen. Bei der Bewerbung der Universität Hamburg für die DSF-Stiftungsprofessur „Naturwissenschaft und Friedensforschung“ spielte er eine entscheidende Rolle. Alternativen anzuregen und zu diskutieren war ein Charakteristikum seiner publizistischen Arbeiten wie seiner ausgedehnten Vortragstätigkeit, die auf seinen Einblicken in die Quantentheorie beruhte Als Quantenphysiker verwies er stets auf die Offenheit der Zukunft und die volle Nutzung der Kreativität der Menschen, um die anstehenden globalen Krisen zu meistern.⁵ Er fungierte als Berater und Leitfigur vieler zivilgesellschaftlicher Vereinigungen, Stiftungen und Denkzirkel, so dem von ihm gegründeten Global Challenges Network, der Schweisfurth-Stiftung für die Entwicklung einer Kultur der Nachhaltigkeit, der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, dem Club of Rome und dem World Future Council.
Privat war er ansteckend umgänglich, diskussionsfreudig und stets lebensbejahend. Legendär sind seine Reisen in die zweite Heimat, USA, wo er mit Freunden und Intellektuellen, aber auch den einheimischen Indianern Fragen von Welterkenntnis, Religion, Kosmos, Geist und Materie erörterte. Seine Autobiografie „Warum es ums Ganze geht“ (2009) gibt bis heute einen faszinierenden Einblick in sein Leben, seine geistigen und politischen Grundüberzeugungen sowie sein rastloses Arbeitsprogramm. Die globalisierte Welt braucht Menschen und Wissenschaftler wie Hans-Peter Dürr, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Angesichts multipler Krisen brauchen wir die Impulse und Ideen von Hans-Peter Dürr auch heute.
In der Rede zur „Weltfriedensinitiative“ sagte Hans-Peter Dürr 1985 (S.61):
“Geben wir dem Frieden eine Chance, nehmen wir mutig das damit verbundene Risiko auf uns. Lernen wir alle mit diesen Widersprüchen (gemeint sind Ungerechtigkeit, Hass, Vergeltung, GN) zu leben, in der Hoffnung, dass sie sich einmal auf einer höheren Ebene auflösen werden.“
Fußnoten
¹Siehe auch als Kurzversion das Interview mit Hans Peter Dürr im Jubiläumsband „Wissenschaft-Verantwortung-Frieden. 50 Jahre VDW, 2009, Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin, S. 347-358. oder seinen biografischen Vortrag „Weil es ums Ganze geht“ // Vortrag lang, GLOBART 2011 auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=RKma6xCTIBE
²Siehe dazu die Ausführungen von HPD über seine Begegnung mit Hanna Arendt: https://www.youtube.com/watch?v=SdSt4wxDuRY
³Siehe sein Vortrag zu Werner Heisenberg im Festsaal des Alten Rathauses München, 2006: https://www.youtube.com/watch?v=isqCXRNzyRc
⁴Götz Neuneck, Michael Schaaf, (Hg.). (2007). Zur Geschichte der Pugwash-Bewegung in Deutschland. Preprint 332. Berlin, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte oder Götz Neuneck (2009). Die deutsche Pugwash-Geschichte und die Pugwash-Konferenzen- Ursprünge, Arbeitsweise und Erfolge- Das Ende des Kalten Krieges und die Herausforderungen der Zukunft. Wissenschaft-Verantwortung-Frieden: 50 Jahre VDW, Stephan Albrecht et al. (Hrsg.) Berlin, S. 377-392.
⁵Bei Youtube findet man auch heute viele seiner Vorträge und Interviews, die heute noch ansteckende und inspirierend sind. Eine Playlist von Hans-Peter Dürrs Vorträgen findet sich unter: https://www.youtube.com/playlist?list=PLSaXfJZnN6fHayzWvIi_ahEWhreQNyS_4