26. Oktober 2023 | „Die Vorreiterrolle der Wissenschaft auf dem Weg von (neo-)kolonialen Strukturen hin zu partnerschaftlichem Miteinander und einer Verantwortung 2.0“
Wie können wir neo-koloniale Strukturen überwinden – in der Wissenschaft und darüber hinaus? Was bedeutet Dekolonialisierung von und durch Wissenschaft und wie kann die Sozialisierung der Macht gelingen? Welche Rolle spielt Identität und die Prägung unseres Hirns bei diesen Fragen? Und wie erreichen wir einen Diskurs auf Augenhöhe, um die drängenden Probleme unserer Zeit gemeinsam anzugehen?
Verantwortung der Wissenschaft – das war das zentrale Thema des 12. Aktionstages zur Aufklärung 2.0 am Campus Witzenhausen der Universität Kassel am 26. Oktober 2023. Gemeinsam mit Akteur:innen aus der Wissenschaft und Zivilgesellschaft, unter anderem Prof. Ernst Pöppel, Dr. Ute Symanski und Dr. Albert Denk, beleuchteten wir das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Aktionstag wurde von Dr. Maria Reinisch moderiert.
Der Tag begann mit einem Grußwort von Prof. Maria Finckh, Dekanin des Fachbereichs Ökologische Agrarwissenschaft der Universität Kassel. Finckh sprach über den Kontext der Veranstaltungsreihe „Witzenhausen und der Kolonialismus.“ Sie skizzierte die Geschichte der vor 125 Jahren in Witzenhausen gegründeten Deutschen Kolonialschule. Die Schule steht eindeutig in einer kolonialen Tradition, in deren Zusammenhang schwere Menschenrechtsverbrechen begangen wurden. 1957 wurde das Das Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL) der Rechtsnachfolger der Kolonialschule. Finckh wies darauf hin, dass das Thema der Kolonialzeit in Deutschland auch in der Wissenschaft unzureichend aufgearbeitet wurde.
Dr. Albert Denk sprach in seiner Keynote über den gegenwärtigen Zustand der ‚Kolonialisierung des Geistes‘ und wies darauf hin, dass die heutige Zeit immer noch von Ausbeutungsstrukturen geprägt ist, wie beispielsweise die Externalisierung von negativen Folgeerscheinungen und die Problematik des Brain Drains zeigen. Die Dekolonialität ist eine Bewegung, die diesem Zustand entgegenwirken will und eine Sozialisierung der Macht fordert. Denk erklärte anhand der vier Leitprinzipien der VDW, wie auch die Wissenschaft Dekolonialität anwenden kann, um die vorhandenen Ausbeutungsstrukturen zu durchbrechen. Das erste Leitprinzip ist die Unabhängigkeit. Hier sollten Wissenschaftler:innen anstreben, sich von Denk- und Sachzwängen zu befreien. Der zweite Aspekt ist die Überparteilichkeit. Es sei wichtig, die Diversität in der Wissenschaft zu erkennen und Transdisziplinarität zu leben. Verantwortung ist das dritte Leitprinzip. Dekolonialität hier bedeutet, Position zu beziehen, Machtasymmetrien zu erkennen und zu reduzieren, Benachteiligungen aktiv entgegenzuwirken und somit auch Stellung als politischer Akteur:in zu beziehen. Schließlich sprach Denk von dem Leitprinzip der Solidarität. Es sei wichtig, eigene Privilegien einzusetzen und Praktiken der Solidarität zu entwickeln. Durch Nichtstun werden Ungleichheiten reproduziert, so Denk.
„In Besitz nehmen: eine dunkle Seite der Verantwortung“ so lautete der Titel der zweiten Keynote. Hirnforscher Prof. Ernst Pöppel gab dem Publikum eine Einführung in die große Komplexität unseres Gehirns. Direkt zum Einstieg wirft er die fundamentale Frage der Identität auf. Er erläutert das allein innerhalb eines Tages unterschiedliche körperliche Funktionen wie z.B. die optische Reaktionszeit, die Kraft oder die Körpertemperatur über den Tag variieren, sodass ein Mensch auf physiologischer Ebene zu keinem Zeitpunkt derselbe ist. Wie kann man da von einer persönlichen Identität sprechen? Im weiteren Verlauf erläutert er den pragmatischen Monismus und epistemologischen Dualismus. Der Mensch neige zur monokausalen Betrachtung. Andererseits funktioniere das menschliche Gehirn aber komplementär. So hat der Mensch bspw. ein evolutionäres Erbe und Umweltprägungen sowie eine soziale Einbettung und Unabhängigkeit. Der Mensch wird in den ersten 20 Jahren seines Lebens geprägt. In dieser Zeit bilden sich, bedingt durch die physikalische und kulturelle Umwelt, Wertvorstellungen, Handlungssysteme, und Vorurteile. All das brauche der Mensch, um zurechtzukommen. Plastisch stellt Pöppel da, dass es viele verschiedene Versionen von ihm (und uns) geben könnte, wenn z. B. wir an einem anderen Ort aufgewachsen wären, einen anderen Berufsweg eingeschlagen hätten, oder ein bestimmtes Ereignis erlebt oder nicht erlebt hätten. Dass sich die verschieden geprägten Versionen unserer selbst heute gut verstehen würden, stellt Pöppel dabei in Frage. Es wird bereits deutlich, wie sehr die Prägung uns beeinflusst, denn laut Pöppel gibt es keine Wahrnehmung ohne Gedächtnisbezug, kein Gefühl ohne Wahrnehmungsbezug, keine Erinnerung ohne emotionalen Bezug und auch keine Entscheidung ohne Vorurteil. Diese ‚Falle der Sprache‘ wirft auch in Bezug auf das Thema des Aktionstags grundlegende Fragen auf, denn wie kann man als Mensch Verantwortung übernehmen, wenn selbst die Existenz einer persönlichen Identität grundlegende Fragen aufwirft? Als Fazit hält Pöppel fest, dass das menschliche Gehirn unberechenbar ist und ruft dazu auf, sich angesichts dieser Komplexität in Bescheidenheit zu üben.
Nach der Pause ging es weiter mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Impulse für die Praxis: Wie können wir eine Verantwortung 2.0. denken und umsetzen? Zukunftsvisionen für ein nachhaltiges Wissenschaftssystem.“ Das Podium bestand aus den Wissenschaftler:innen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen Dr. Albert Denk, Prof. Ernst Pöppel, Prof. Andreas Braun, Dr. Ute Symanski, Prof. Hartmut Graßl, Andra Schumann und Prof. Maria Finckh. Während der Podiumsdiskussion ging es unter den Teilnehmer:innen und auch im Gespräch mit dem Publikum viel um die Korrelation zwischen Nachhaltigkeit und Dekolonialität, da das Anthropozän von der Ausbeutung der Natur und des globalen Südens geprägt sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein wissenschaftliches Neudenken, genauso wie Veränderungen in der Gesellschaft, viel Zeit brauche. Wichtig sei es, viele verschiedene Impulse in das Wissenschaftssystem einzubringen. Zudem wurde über die Wissenschaft als Frühwarnsystem geredet. Gerade hier sei es wichtig, trotz Krisen handlungsfähig zu bleiben. Außerdem wurde besprochen, dass der Umgang mit den großen Herausforderungen der Zeit auch den westlichen Einfluss, die Kolonialität des Geistes, widerspiegelt. Es sei wichtig, zu reflektieren wessen Geschichte wie erzählt wird und darauf zu achten, dass auch unterprivilegierte Gruppen in der Wissenschaft und in der Gesellschaft eine Stimme bekommen.
Das Schlusswort übernahm Prof. Finckh. Sie bedankte sich bei allen Teilnehmer:innen und wies auf die Abschlussveranstaltung der Reihe „Witzenhausen und der Kolonialismus 1898-2023. Von kolonialer Vergangenheit zu heutiger Verantwortung?“ hin. Diese findet am 25. Januar 2024 wieder in Kooperation mit der VDW statt.