Dr. Jürgen Heinrichs ist am 20. November 2022 verstorben.

Jürgen Heinrichs war Anfang der 1970er im wahrsten Sinne des Wortes „der gute Geist“ der Hamburger Forschungsstelle der VDW, die ursprünglich von seinem Mentor, Carl Friedrich von Weizsäcker, gegründet worden war. Er sammelte um sich eine Gruppe junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die durch die Entwicklungen der 1968er geprägt, ebenso aber auch von ihren Erfahrungen in der deutschen und internationalen Entwicklungshilfe beeinflusst war.  Er verstand es, Forscher und Forscherinnen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zu engagieren und sie zu einem Team zu formen.

Die damals in Forschungsprojekten bearbeiteten Themen reichten von der Wissenschaftsphilosophie bis zu Sozialpolitik, z. B. Altersarmut, von Problemen der westeuropäischen Mitbestimmung bis zum Einfluss der profitorientierten Pharmaindustrie auf Ärzte und die Struktur des Gesundheitssystems, von Problemen der deutschen Entwicklungshilfe bis zu Rüstung und Unterentwicklung. Mit kritischem Geist, mit zum Teil revolutionärem Impetus, mit quantitativen und qualitativen Wissenschaftsmethoden legten die Projektteams unter Leitung von Jürgen Heinrichs den Finger in die Wunden der verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen. Zentrale Themen waren für ihn die Globalisierung und deren Folgen, die Ursachen des Bevölkerungswachstums und die Unterentwicklung der damals sogenannten Dritten Welt.

Jürgen Heinrichs war nicht nur Architekt des Forschungsprogramms der Forschungsstelle der VDW, er hinterfragte auch allzu forsche oder vordergründige Thesen oder gar Schlussfolgerungen und mahnte die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Überprüfung und gegebenenfalls zur Korrektur ihrer Ergebnisse. Er legte Wert darauf, dass die Forschungsteams national und international gut vernetzt waren. Er konnte störrisch sein, wenn es um die Unabhängigkeit wissenschaftlichen Arbeitens ging, er war im kollegialen Austausch verbindlich, verlässlich und liebenswert.

Die bearbeiteten Projekte wurden kontinuierlich von Studiengruppen begleitet, die ein wichtiges Strukturelement in der VDW waren.

Die in diesen Jahren verfassten Manuskripte und Publikationen waren zumeist in dem Sinne radikal, als sie traditionell akzeptierte Strukturen hinterfragten und ein Umdenken in vielen gesellschaftlichen Bereichen forderten. Diese Ausrichtung der Forschungsstelle kam nicht überall gut an. Forschungsansatz und Ergebnisse wurden kontrovers in den Gremien der VDW diskutiert. Es gab Versuche, Arbeiten aus der Forschungsstelle zu kippen und Projekte vorzeitig zu beenden. Nie aber wurden wissenschaftliche Ergebnisse unterdrückt. Bei diesen Auseinandersetzungen spielte Jürgen Heinrichs, der inzwischen an das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg gewechselt war, eine konstruktive Rolle. Er war es, der zwischen kontroversen Positionen vermitteln konnte, mit behutsamer Kritik vorliegende Arbeiten zu hinterfragen und zu Toleranz bei allzu rigider Ablehnung zu mahnen.

Dass die Hamburger Forschungsstelle dann Mitte der 1970er Jahre aufgelöst wurde, konnte er nicht verhindern. Dennoch ist es ihm gelungen, nicht nur vielen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Forschungsperspektiven zu eröffnen, sondern auch die ihm wichtigen Themen fest in der deutschen Forschungslandschaft zu verankern.

Einige von uns sind ihm freundschaftlich verbunden geblieben. Im Spätsommer 1989 – Jürgen Heinrichs stand in seinem 50. Lebensjahr – mussten wir erleben, dass er durch einen sehr schweren Fahrradunfall aus seinem regen wissenschaftlichen Leben im Starnberger Institut herausgerissen wurde. Er musste schmerzhaft erleben, dass seinem wissenschaftlichen Arbeiten Grenzen gesetzt waren. Aber er ließ sich nicht unterkriegen, er war sofort wieder präsent und in Sachen Wissenschaft unterwegs. Sein Publikationsverzeichnis ist umfangreich.

Seinem Engagement für pro familia blieb er bis zuletzt treu. Ausgangspunkt für seine damals ungewöhnlichen Fragestellungen war seine bei Rowohlt gemeinsam mit Otto Kreye veröffentlichte Studie zur Welternährungskrise und Hungerkatastrophen. Probleme sexueller Gesundheit, Gefahren von Fertilitätsstörungen durch Umwelt und Globalisierung, Gentechniken, reproduktionstoxische (Neben)Wirkungen von Arzneimitteln und sexueller Gewalt – immer war sein Leitthema in diesem Bereich ein Menschenrecht auf Gesundheit.

Jürgen Heinrichs lernte bei pro familia Ende der 80er Jahre seine Freundin und spätere Ehefrau Elke Kügler, eine Psychotherapeutin mit dem Fokus auf Trauma-Erfahrung und ihre  Folgen und Behandlung, kennen. Sie ist ihm eine unentbehrliche treue und zuverlässige Partnerin geworden.

Mit ihm ist ein kritisch-konstruktiver Geist und ein wahrhaft engagierter Mensch für die Wissenschaft, der für seine Überzeugungen einstand, von uns gegangen.

Foto: Elke Kügler

  • ein Beitrag von:

    Dr. Volker Friedrich,
    Dipl. Volkswirtin Monika Friedrich-Wussow,
    Dr. Peter Lock,
    Prof. Dr. Herbert Wulf.

    Ehemalige Mitarbeiter der Hamburger Forschungsstelle der VDW