Jürgen Heinrichs war ein Philosoph zum Genießen: Bedächtig, also mochte er erst mal einer Frage Zeit geben, die Gedanken vor dem eigenen Gemüt balancieren, schließlich im Stil unseres Direktors Carl Friedrich von Weizsäcker behutsam beginnen mit einem: „Ich könnte vielleicht meinen …“. Was Jürgen Heinrichs auszeichnete, so auch bis vor kurzem auf der letzten Jahrestagung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) in Berlin, waren seine zuvorkommende Freundlichkeit und Wertschätzung für jeden Gesprächspartner.

Ganz im Sinne von „It’s the economy, stupid“ hatten wir im Max-Planck-Institut (MPI) in Starnberg zwei mit Ökonomie befasste Gruppen gegründet: Eine mit Jürgen Heinrichs, Volker Fröbel und Otto Kreye, die sich mit Fragen zur Struktur und Härte der globalen Wirtschaft befasste. Jürgen Heinrichs und seine Gruppe fragten: Was ist bei all der der globalen Armut „eigentlich“ los?1 Die andere mit Utz Peter Reich und mir sowie als Berater Hans Werner Holub zu Quantifizierungen der Arbeit Konsum Rechnung (AKR), die sich die Frage vorgenommen hatte: Was bedeutet das BSP (Bruttosozialprodukt) für „den“ (statistisch präzisierten) deutschen Bürger?2 Die Arbeitszimmer von uns Fünfen waren nur wenige Meter voneinander entfernt.

Jürgen Heinrichs verkörperte dabei die Besinnung auf die stete Ermahnung unseres Direktors zu hinterfragen, sprich zu prüfen: „…, ja, aber was ist die eigentliche Frage?“ Unsere Kapitalismuskritik unterschied sich von den Arbeiten der Gruppen um Habermas durch unseren Fokus auf die einzelnen Betroffenen, auf die unmittelbaren Lebensumstände, auf bittere Armut und Gewalt. Bei den Mitarbeitern um Jürgen Habermas war „auch der Mensch“ im Fokus, aber dort ging es mit strikt „sozialwissenschaftlichen Werkzeugen“ um eine – durchaus begründet erbitterte – Kritik an den Grundstrukturen des Kapitalismus. Von daher war es klug gesehen, dass Jürgen Habermas sein sich Verwundern über uns in die Worte fasste: „Alle erforschen etwas anderes, als sie im Studium gelernt hatten“.

Für die Gründung des MPI hatte sich Jürgen Heinrichs stark mit eingebracht mit der Überzeugung: „Was in der Politik fehlt, sind die Philosophen!“, sie können sogar die Streitereien der Fakultäten ausgleichen. Nach Schließung des „gescheit gescheiterten“ MPI hat Jürgen Heinrichs die Mahnung zu einer mentalen Besinnlichkeit weiter verkörpert.

Selbst nach seinem tragischen Verkehrsunfall mit schweren Beeinträchtigungen hat er sich – so wie es sich für ein Mitglied der VDW gehört – nie beruhigt! Er blieb weiter, so gut es seine Kraft zuließ, engagiert. Auch saßen wir gerne in Berlin bei einem Glas Rotwein in der untergehenden Sonne. Wir halfen einander, in einer für uns persönlich „guten alten Zeit der Wissenschaft“ zu schwelgen, oft ohne viel Worte.
Nun lieber Jürgen, was geschieht mit deinen Sorgen um unsere schwierige Welt? In unseren Mitgliedern der VDW wird deine Art der Besinnung auf die „eigentlichen Fragen“ – bedächtig, und doch zugleich heftig umstritten, also ganz wie gewohnt – weiter lebendig bleiben.


1Ergebnis war der Band: Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs und Otto Kreye [Hg.]: Die neue internationale Arbeitsteilung : Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und Industrialisierung der Entwicklungsländer. Rowohlt Verlag (rororo aktuell 4185), Hamburg, (1977), 653 S.

2Ergebnis war der Band: Reich, Utz-Peter, Sonntag, Philipp und Holub, Hans-Werner: Arbeit-Konsum-Rechnung – Axiomatische Kritik und Erweiterung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Bund Verlag 1977, Köln, 252 S.

  • ein Beitrag von: Dr. Philipp Sonntag